Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Papenbrock zahlte die Aussteuer.
    Und Louise Papenbrock konnte ihren Mann wieder einmal nicht verstehen.
    Robert hat ein Pferd in einem Wettrennen mit einem Auto totgeritten.
    Als Robert in einer Stunde nach Teterow reiten wollte, faßte ich das Pferd am Halfter und führte es zum Stall. Er neben mir her sagte wieder und wieder, leise wegen der Knechte: Giv mi dat Pier. Im Stall war es düster, es war ein verhangener Abend kurz vor einem Regen, und ich konnte nicht sehen, daß er seinen Revolver aus der Tasche gezogen hatte. Er sagte: Giv mi dat Pier, orre ick scheit.
    Scheit doch.
    Ich habe mich im Unernst gebückt, und nicht mehr ist mir abgefallen als ein Haar.
    Und das Pferd stand auf den Hinterbeinen. Das war zum Reiten verdorben.
    Sech dat man nich Mudding: sagte er.
    Mudding hett nüms nich wüßt.
    Dein Onkel Robert kam betrunken zur Schule, machte Schulden in Restaurants, schoß auf Spatzen in der Stadt und traf Fensterscheiben. Als er die Tochter eines Lehrers geschwängert hatte, mußte er nach Parchim getan werden. In Parchim
    nahm er sich ein Zimmer im Hotel Graf Moltke.
    Und flanierte durch die Stadt mit einem silbernen Handstöckchen.
    Er saß in der Goldenen Traube in der Langen Straße bei Ente und Rotwein und sah vor dem Fenster den Rektor mit seiner Frau und lud das bestürzte Paar ein zu Ente und Rotwein. Das war sein Ende in Parchim.
    Von Parchim an weiß ich nicht mehr.
    Von Parchim ging er nach Hamburg.
    Mit drei Mark in Silber von Parchim nach Hamburg?
    Robert hat erst einmal zwei geliehene Pferde verprölt, und dann noch dem Teufel ein Bein abgesoffen.
    In Vietsen wurde gesagt: Er lernt Import und Export in Rio de Janeiro.
    In Vietsen hieß es: Mach die Tür auf, die Kornjuden kommen.
    In Vietsen lebte deine Urgroßmutter noch. Sie hat immer die Gänse geschlachtet.
    Henriette hieß sie. Sie war aus einer adligen Familie. Sie hatte solche Ausdrücke: Perron, Dependance. Oder: Wasch-Lavoir.
    Bei der Haussuchung hat einer der Arbeiter zu mir gesagt: Treck di doch wat up din Föt, Kind.
    Papenbrock hat Vietsen aufgegeben, weil die Adligen ihn seit März 1920 schnitten.
    Papenbrock wurde die Pacht von Vietsen nicht verlängert, weil er nicht nach Vertrag drainiert hatte.
    Weil alle über sein Kinderzimmer lachten.
    Weil er nicht drainiert hat.
    Wir wissen es nicht, Gesine.
    Warum willst du das wissen, Gesine.
    Wegen Cresspahl. Was wollte Cresspahl in einer solchen Familie.

7. September, 1967 Donnerstag
    Der Zeitungenverkäufer auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße, zieht vor, daß die Kundin die zehn Cent nicht neben den Stapel sondern in seine Hand legt, als könnten seine verstümmelten Finger so arbeiten wie heile. Auf den Stufen des Niedergangs, deren stählerner Belag links stärker abgetreten ist, müssen die Schritte kurz treten. Es ist zweckmäßig, die Ubahnmünze schon fünf Schritte vor den Drehkreuzen zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten. Nach dem Weg unter dem Bummelzuggleis hindurch auf den Südbahnsteig hält die erste Tür des letzten Wagens anderthalb Schritt vom Treppengeländer. Der Zug ist durch Harlem passiert, die Bänke sind stramm besetzt mit Schlafenden von dunkler Haut. Die New York Times muß gefaltet werden in den verbliebenen Sekunden vor dem Ruck der Abfahrt, bevor der Fahrgast sich an dem Haltegriff oberhalb jeden Sitzplatzes gegen das Schlingern des Zuges sichert. Die Regierung findet ihre Voraussage von einer starken ökonomischen Expansion bestätigt; die Regierung meldet überzeugende Beweise für eine Zunahme inflationärer Tendenzen. Morgens sind die Gänge und Treppen unterhalb des Times Square mit Ketten und von Bahnpolizei in Kanäle aufgeteilt für die Gehströme zwischen den vier Linien; unter den drei Bahnsteigen des automatischen Pendelzuges zum Bahnhof Grand Central gilt der mittlere als der günstigste. Zu dieser Zeit sind Berührungen unter den Passagieren kaum noch zu vermeiden. In Detroit streiken die Automobilarbeiter gegen Ford. In der großen Halle von Grand Central, unter dem blaugoldenen Sternenhimmel in der Tonnenkuppel, wurde vor Jahren ein Fernzug nach Chicago ausgerufen; keinen Tag wieder hat sie diese Minute abpassen können. Aus dem Untergrund der Halle fädeln sich verschlafene Pendler in Richtung Osten zur Lexington Avenue, noch nicht munter genug für den Kampf um die Taxis. Inzwischen sind von den siebenhundert Gesichtern, die sie an diesem Morgen gesehen hat, fast alle vergessen. Jetzt beginnt das

Weitere Kostenlose Bücher