Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
und gehen weg unter der Hand. Die Decken sind hoch, der Zimmerplan ist altmodisch, die Wände dämmen den Schall; die Verwaltungen besorgen den Müll und die Reparaturen. Die Straße gilt als beinahe sicher. (Auf den Parkbänken ist jetzt oft die Rede von den Homosexuellen, die einander sommers am Denkmal der Soldaten und Seeleute abpassen und es den Hochzeitskuchen nennen.) Und die Straße gehört zu den stillen. Wenn es hoch kommt, sieht sie im Jahr zwei Paraden. In den Fugen des Bürgersteigs hält sich langes Gras. Das Motorengeräusch von der Schnellstraße am Hudson wird zwei Jahreszeiten lang durch das Parklaub gefiltert, und außerhalb der Stoßzeiten ist der Riverside Drive eine Straße mit Nahverkehr, in der Nacht leer und lautlos, bis sechs Uhr morgens, wenn die ersten zur Arbeit fahren und die hohlen Pfiffe der Eisenbahn unter den Parkwülsten in den dünneren Schlaf dringen, morgen früh. Hier wohnen wir.
5. September, 1967 Dienstag
Gestern abend um halb sieben kamen vier Polizisten in einem der Ghettos von Brooklyn dazu, wie vier oder fünf junge Neger einen alten Weißen angriffen. Sie konnten einen Jungen festnehmen und schossen einen anderen in den Hinterkopf. Eine Menge lief zusammen und bewarf die Polizei mit Flaschen und Steinen und schrie: Bringt sie um! Ein Schnapsladen wurde von Halbwüchsigen geplündert, andere Schaufenster eingeschlagen. Die Polizei räumte ihre Barrikaden um das Gebiet gegen 10 Uhr weg, aber kurz nach elf knallten 15 Molotow-Cocktails in die Straße. Da war der erschossene Junge schon zwei Stunden tot. Richard Ross, 14 Jahre alt.
Die Sowjetunion hat seit 1955 wahrscheinlich 500 Millionen Dollar in Waffen an Entwicklungsländer geliefert.
Mitunter sacken die Fahrstühle in der Bank im Anfahren ab, als gingen die Maschinen in die Knie. Fast zwanzig Leute in dem fahrenden Kasten hören zwei Mädchen zu, die hartnäckig, aber nicht ärgerlich, auf den Laden an der Ecke schimpfen. Zwar hat die Firma nicht den Preis des Kaffees erhöht, aber sie verwendet neuerdings kleinere Becher. Gesine trifft in den belustigten Blick der Nachbarn, die einander zuzunicken beginnen. Die kleinen Bewegungen aus dem Nacken lassen sie wie Aufwachende aussehen. Alle Knöpfe in der Tastatur neben der Tür sind mit gelbem Licht gefüllt, der Fahrstuhl wird in jedem Stockwerk halten. Ja, ein Bummelzug: sagt sie zustimmend, lächelnd, vergeßlich. In den leuchtenden Fächern über den Türen steht zwölfmal der Name des Unternehmens, zwölfmal die selben drei Worte mit dem roten Fünfstrichsymbol, ohne die Abteilungen zu nennen, ausgenommen für den zweiten Stock: Empfang. Im zweiten Stock werden die Besucher gefiltert und die Bankgeschäfte der Laufkundschaft aufbewahrt. Im dritten Stock steigen die beiden Mädchen mit ihren Kaffeetüten aus, und wieder lächeln einige Passagiere, als sei etwas Wahrscheinliches eingetreten. Im dritten Stock ist die Maschinenbuchung. In einer Maschinenbuchung war ihr erster Arbeitsplatz in diesem Land, eine meterbreite Arbeitsplatte, die dritte links in einer Reihe von zwölf, vor einem Rechengerät, dessen Rasseln ihr sonderbar einzeln aus der Geräuschwolke im weiten Saal ans Ohr drang. Im vierten Stock ist die Materialausgabe und die zentrale Poststelle. Im vierten Stock ist sie nicht mehr gewesen, seit Mrs. Williams sie mit Papier, Bleistiften, Farbbändern versorgt. Anfangs hatte sie sich dagegen gewehrt, bedient zu werden; dann hatte sie begriffen, daß Mrs. Williams an solchen über den Tag verteilten Gängen gelegen war. Im fünften Stock, der nach den Küsten Ost und West heißt, hat sie in diesem Haus angefangen, an einer Blechkommode im offenen Büroraum, von vier Seiten sichtbar, an einer Schreibmaschine und dem Vorschalttelefon eines Sachbearbeiters. Im sechsten Stock sind Cafeteria und Konferenzräume. In der Cafeteria werden noch die größeren Kaffeebehälter verwendet, und viele steigen hier noch einmal aus. Im siebenten Stock sitzen die Abteilungen Technik und Personal; im achten das Gedächtnis der Bank; im neunten die Abteilungen Recht und Bücherei. Aus dem Milchglashimmel des Fahrstuhls, in dem eine wacklige Röhre kleine, gewitterähnliche Finsternis flackern läßt, dringt verwaschene Barmusik und mischt sich mit dem Klacken der aufscherenden Tür und dem Klingeln des Signals im Gang. Im zehnten Stock steigt Gesine aus und wendet sich nach Westen. Das Gebäude ist durch die Fahrstuhlschächte und die Versorgungsleitungen in zwei Hälften
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