Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
geteilt, und diese Etage hat im östlichen Teil die Abteilung Südamerika, im westlichen einen Teil von Westeuropa. Sie nennt aber den zehnten Stock auch in Gedanken den elften, nach der amerikanischen Zählung. Hinter ihr fällt die Tür mit einem schweren Schmatzen zu.
Guten Morgen, Dschi-sain.
Guten Morgen.
6. September, 1967 Mittwoch
In Gefechten im Queson-Tal sind seit gestern morgen 54 Amerikaner und 160 Nordvietnamesen gefallen, 136 Nordvietnamesen bei Tamky, 3 Amerikaner am Nuibaden-Gebirge, 16 Vietnamesen bei Cantho, 5 Amerikaner und 37 Vietnamesen bei Conthien, 34 Vietnamesen in der Provinz Quangngai.
In Brownsville in Brooklyn warfen die Neger gestern nacht wiederum Steine, Flaschen und Molotow-Cocktails auf Polizei und Feuerwehr. Die Luft war dick vom Rauch der angezündeten Mülltonnen und Abfallhaufen. Bürgermeister Lindsay traf sich mit Sprechern des Ghettos in einem Polizeirevier. Die New York Times erwähnt, daß er einen blauen Anzug und ein blaues Strickhemd trug.
Gestern in den frühen Morgenstunden stürzte ein Mann in die Kneipe »Bluebird« in der Bronx, gab acht Gewehrschüsse ab und verließ das Lokal, ohne ein Wort gesagt zu haben. 1 Toter, 2 Verwundete.
1920, während des Kapp-Putsches, beschoß Baron Stephan le Fort, Rittmeister a. D., Besitzer von Boek (2622 Hektar), die Stadt Waren an der Müritz mit einer Kanone, weil die Arbeiter die Stadt übernommen hatten. Der Einschuß am Rathaus ist heute noch zu sehen. Als die Landarbeiter der Gegend von fünf Toten in Waren hörten, gingen sie mit Jagdflinten und Sensen los und suchten auf den Gütern nach den Gewehren, Maschinengewehren und Munition, die die güstrower Reichswehr den Besitzern geschickt hatte. Der Gutspächter Papenbrock auf Vietsen, der sich in seinem Haus fünf Baltikumer als Hauslehrer, Eleven und Sekretär hielt, schickte die Soldaten durch den Hintergarten weg, als der Gärtner angelaufen kam und den Anmarsch des Feindes meldete. Papenbrock, damals 52 Jahre alt, stellte sich auf der Freitreppe auf, mit zurückgedrückten Schultern, Bauch im Gürtel aufgehängt, in Breeches und Stiefeln und sagte: Meine Herren. Ich gebe Ihnen mein Wort als Offizier. Bei mir sind keine Waffen. (Wenn Sie trotzdem suchen wollen, seien Sie bitte im Kinderzimmer leise und lassen die Mädchen schlafen.)
Meine Mutter, ein vierzehnjähriges Kind, stand in ihrem knöchellangen weißen Hemd auf den Dielen und wand sich ihr Haar ums Handgelenk und sah hin und her zwischen Papenbrock, ihrer Schwester Hilde und den Arbeitern, die sie auf Platt ausfragten. Papenbrocks Gesicht schaukelte zwischen einem drohenden und einem zärtlichen Ausdruck. Sie sagte endlich, tief Atem holend und mit niedergeschlagenen Augen: Inne Döe. Hinter dem eichenen Schrank im Kinderzimmer, der von Wäsche zentnerschwer war, in einer zugestellten Tür, hingen neun Infanteriegewehre und zweihundertzehn Schuß Munition in Gurten. Meine Mutter wurde für zwei Wochen auf Wasser und Brot gesetzt. Papenbrock sprach von Verrat durch sein eigen Fleisch und Blut. Seine Frau sprach von der Liebe des Christen zur Wahrheit. Papenbrock rutschte die Hand aus an ihre Schläfe, und er ging den Sommer über nicht in die Kirche. Auf den umliegenden Gütern wurde von Papenbrocks Offiziersehre gesprochen. 1922 gab Papenbrock die Pacht auf.
In Vietsen hatten wir Mädchen jedes für sich ein Dienstmädchen.
Dann gab es noch die von der Plättstube, der Küche, der Waschküche, die zum Saubermachen, und die Mamsell.
Eine Zeit lang hatte Louise Papenbrock einen Hausgeistlichen.
Einmal bestellte Hilde sich Strümpfe aus dem Schrank, weil ihr die vier Schritte auf den Flur zu weit waren, und Papenbrock ließ sie hart an. Sie mußte dem Mädchen fünfzig Pfennig geben.
Wenn Papenbrock verreisen wollte, telefonierte er mit dem Vorstand des Dorfbahnhofs und ließ ihn den gewünschten Zug auf freiem Feld beim Gut anhalten. Der Mann sagte: Ja, Herr. Für zwei Weihnachtshühner.
Und wenn Papenbrock zurückkam, zog er beim Gut die Notbremse und zahlte die zweihundert Mark Strafe und stieg in den Kutschwagen, mit dem Fritz nach dem Fahrplan auf dem Feldweg angefahren kam.
Fritz ist mitgekommen nach Jerichow. Er ist da gestorben.
Als Robert siebzehn war, mußte Hilde ihn immer zwei Stunden vor Schulanfang wecken, damit Louise Papenbrock nicht das Dienstmädchen in seinem Bett fand.
Das Mädchen hieß Gerda, und war so alt wie ich. Sie hat ins Dorf geheiratet, denn schwanger war sie.
Und
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