Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Lächeln.
Sie hat es gelernt. Selten noch erschrickt sie vor dem Lächeln, das jeden Morgen gleich auf dem Gesicht des Mädchens am Empfang der Abteilung aufzieht, verrutscht, abstürzt. Sie fühlt sich zu langsam für den ausführlichen, unveränderbaren Austausch der Begrüßung, der Frage nach dem Ergehen, der Antwort, der Gegenfrage, der Gegenantwort, der Verabschiedung; sie hat Mühe, damit in den vier Schritten einer Begegnung auf den Korridoren zu Ende zu kommen. Das hat sie nicht gelernt. Jedoch von diesem Lächeln fühlt sie sich gedeckt und putzt es auf bis ins Ausgelassene.
Das ist unsere Deutsche; Deutsche sind aber anders.
Die Abteilung besteht aus einem inneren Kern von Räumen aus Milchglasscheiben, einem offenen Raum mit Schreibtischgruppen, einem äußeren Rand von Büros, die Fenster zur Außenseite haben. Nach der stählernen Tür, die in ihrem Rücken zuschnappt, passiert sie den Schreibtisch des Empfangs, vier Tische auf der linken Seite, drei Innenbüros auf der rechten Seite. An den Maschinen von Mrs. Agnolo geht sie wie vergeßlich vorbei, ein Gespräch mit dem nächsten Tisch vortäuschend; Mrs. Agnolo hat einen Sohn in Viet Nam. Bei Danang starben gestern 36 Amerikaner, 142 Vietnamesen. Sie fürchtet sich vor dem Morgen, an dem die Todesnachricht hierher mitgebracht wird; der Junge hat noch vier Monate abzuleisten. Die meisten Innenbüros sind schon weißlich von Neonlicht, die Stühle im offenen Raum sind sämtlich besetzt, aber noch packen die Mädchen Arbeit aus, kramen in den Handtaschen, zeigen sich Inserate in der Zeitung. In Brownsville, Brooklyn, haben die Neger Polizisten mit Flaschen und Steinen beworfen. Plünderung, Brandstiftung; auf der anderen Seite des East River. Im Central Park ist ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt worden von zwei Männern, die ihren Freund so zertrampelten, daß er vielleicht sterben wird. In zwei Minuten wird verflochtener Tastenlärm in der Luft hängen, plötzlich wie angeschaltet. Neben ihrer Zelle ist ein Schild aus braunem Kunststoff angebracht, auswechselbar in einer Schiene, mit dem Namen »Miss Cresspahl« in weißer Einprägung. Die Zelle mißt dreieinhalb mal drei Meter, ist mit Teppichboden ausgelegt, versehen mit einem Stahlschrank, Schreibtisch, dem Maschinenbock, Tonbandgerät, Telefon, fahrbarem Sessel, Ablagedecks, Besucherstuhl. Um elf kommt der Kaffeewagen, um zwölf ist Tischzeit, um fünf dürfen die Schreibkräfte gehen, um sechs schaltet die Telefonzentrale ab, um acht werden die Fahrstühle angehalten. Während die Angestellte Cresspahl die Post aus der Eingangsschale auf dem Schreibtisch von Mrs. Williams nimmt, sieht sie durch ihre offene Tür auf die von blauem Mattglas eingefaßten Jalousiestreifen des Gebäudes gegenüber, auf den Spiegel, in dem dieser Tag bis zum Dunkelwerden einstürzen wird ohne eine Spur.
8. September, 1967 Freitag
Der Kriegsminister erläutert die Mauer, die er bauen will an der Nordgrenze Süd-Viet Nams. Er spricht von Stacheldraht, Landminen und eleganter Elektronik; er schweigt sich rein aus.
In den vier Tagen der Kämpfe um Danang sind 114 Marine-Infanteristen getötet und 283 verwundet worden. Auf der anderen Seite fielen 376, aber bei denen zählt die New York Times die Verletzten nicht eigens.
Dienstfertig beschreibt das Blatt die künftigen Ausfälle bei Fabriken, die Ford beliefern: es geht um jährliche 5 Milliarden Dollar in Ausrüstung, die nicht hergestellt werden dürfte. Die Streikposten werden nicht belästigt. Vor dreißig Jahren gab es in den Rouge-Werken in Dearborn, Michigan, Aufruhr, Straßenkämpfe und Schießereien. Vor dreißig Jahren fiel ein Kind von Cresspahl in die Regentonne hinter seinem Haus.
Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl! sagt James Shuldiner zerstreut. Es ist am hellichten Tage, in einer skandinavischen Sandwichstube an der Zweiten Avenue, an schmalen Beistelltischchen, Ellenbogen an Ellenbogen mit Zuhörern, und Mr. Shuldiner hat Mrs. Cresspahl noch kein Mal eingeladen am Abend, in eins der sammetdunklen Restaurants in den östlichen fünfziger Straßen, an ein Tischtuch, zu verdeckten Rechnungen und zu Heimlichkeiten. James Shuldiner ist ein schmächtiger Herr, feuchtäugig, vergrübelt, von ungelenken Bewegungen, steif, unter schwärzlichem Schopf noch dem Oberschüler ähnlich, der er vor elf Jahren war, ein Junge aus Union City, den keine Bande brauchen konnte, der von beiden Banden Prügel bekam und aus den letzten Ferien
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