Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
stracks in die Armee ging, Mr. Shuldiner, ein versorgter Steuerfachmann, der bereit wäre, stolz zu sein auf ein männliches Gedächtnis. Er hat keine Hand auf ihre gelegt, er betrachtet nicht die Dame sondern seinen Eiersalat, er ist sich einer neuen Sorge bewußt geworden. Dennoch wartet er.
– Schönen Dank, mein Herr: sagt sie.
Mrs. Cresspahl ist nicht stolz auf ihr Gedächtnis. Mr. Shuldiner ist verblüfft über ihre Berufung auf das Gesetz über Cash and Carry von 1937, das den U. S. A. die Lieferung von Waffen an kriegführende Nationen freigab; Mr. Shuldiner besteht nicht darauf, sie beim Vornamen zu nennen, er stellt ihr nicht seine Schwierigkeiten dar sondern die der internationalen Politik. Sie hatte nach dem Jahr 1937 gesucht und wieder nichts bekommen als ein statisches, isoliertes Bruchstück, wie es ihr der Speicher des Gedächtnisses willkürlich aussucht, aufbewahrt in unkontrollierbarer Menge, nur mitunter empfindlich gegen Befehl und Absicht:
1937 ließ Stalin einen großen Teil seines Generalstabs hinrichten,
1937 hatte Hitler seine Kriegspläne fertig ausgearbeitet,
von Pete Seeger muß man mindestens eine Schallplatte kaufen, weil die Fernsehanstalten ihn für ein antimilitaristisches Lied auf die schwarze Liste gesetzt haben,
(meint Marie),
die heutige Ausgabe der New York Times ist die 40 039.,
seit vorgestern steht auf einem Reklameplakat im Ubahnhof 96. Straße/Broadway handschriftlich: Fickt die Juden:
das Gedächtnis hat ihr geholfen durch Schulprüfungen, Tests, Verhöre, es bringt sie durch die tägliche Arbeit, es wird von einem Mann für ein Schmuckstück angesehen; ihr kam es an auf eine Funktion des Gedächtnisses, die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.
Daß das Gedächtnis das Vergangene doch fassen könnte in die Formen, mit denen wir die Wirklichkeit einteilen! Aber der vielbödige Raster aus Erdzeit und Kausalität und Chronologie und Logik, zum Denken benutzt, wird nicht bedient vom Hirn, wo es des Gewesenen gedenkt. (Die Begriffe des Denkens gelten nicht einmal an seinem Ort; damit sollen wir ein Leben führen.) Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich. Auf Anstoß, auf bloß partielle Kongruenz, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmtem Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade läßt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgeraubte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so daß wir blind sind mit offenen Augen. Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen.
Dor kann se ruich sittn gån.
Mr. Shuldiner hat sich unterbrochen in seiner Darlegung der neuesten Verstöße gegen das Völkerrecht, als Mrs. Cresspahl ihre Handtasche aufnahm, die Hand im Rücken des fetten schwarzen Beutels wie im Nacken einer Katze, sich die Tasche über die Hand setzte und dazu etwas aussprach in einem deutschen Dialekt. Er läßt es sich erklären, unbeleidigt, vorgebeugt wie ein aufmerksamer Zuhörer:
Das sagte mein Vater, als ich Angst hatte vor einer Katze unter dem Tisch. Sie legte sich über das Leder seiner Holzpantoffeln zum Schlafen. Das muß auch 1937 gewesen sein. An dem Tag war ich in die Regentonne gefallen.
Und Ihre Mutter, Ihre Mutter stand dabei? sagt Mr. Shuldiner eifrig.
Lisbeth ick schlå di dot.
Meine Mutter stand nicht dabei. Entschuldigen Sie. Es war ein Tagtraum, Mr. Shuldiner.
James Shuldiner begleitet Mrs. Cresspahl pflichtbewußt entlang der Zweiten Avenue in einen Laden nach dem anderen und beobachtet geniert ihre Versuche, einen Apfel zu kaufen. Äpfel verkaufen die Läden für vornehme Feinkost in Packungen, auch pfundweise, einzeln nicht. Nachdem es Mrs. Cresspahl gelungen ist, einen Apfel in einem Supermarkt wenigstens zu stehlen,
Weitere Kostenlose Bücher