Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
versucht er sich zu verabschieden. Er sieht ihr beim Zubeißen zu und sagt: Mir gefällt Ihr Kleid, Mrs. Cresspahl. Er wird auch diesmal nicht sagen, warum er angerufen hat. Er geht die aufsteigende Straße hinan, eine magere, etwas krumme Person, schwarz und weiß in einem Büroanzug. Vielleicht schüttelt er den Kopf.
Wenn da eine Katze innen am Küchenfenster lag, bin ich auf einen umgestülpten Eimer gestiegen und von da auf die Regentonne. Wenn auf der Tonne der Deckel fehlte, war meine Mutter in der Nähe. Wenn Cresspahl mich herauszog, hat sie zugesehen. Was soll ich dagegen tun!
9. September, 1967 Sonnabend
Fast herrscht Gerechtigkeit in New York an diesem Morgen. Die Luft steht still. Die Luft kann sich nicht rühren unter unbeweglichen Wärmemassen in der oberen Atmosphäre, sie kann seit gestern nicht mehr in die Kälte steigen und den Schmutz loswerden, den die Stadt in sie pumpt aus Kraftwerken, Gasanstalten, Heizschornsteinen, Automotoren, Düsenaggregaten und Dampfern: die Inversion hat eine undurchlässige Kuppel über die Stadt gestülpt. Der versammelte Dreck aus Ruß, Flugasche, Kohlenwasserstoff, Kohlenmonoxyd, Schwefeldioxyd, Stickstoffoxyd dringt ohne Ansehen der Einwohner durch Fensterritzen, in die Augen, in Hautfalten, legt Kehlen trocken, macht die Schleimhäute verdorren, drückt aufs Herz, schwärzt den Tee und würzt das Essen, schafft zusätzlich Arbeit für Lungenheilpraktiker, Schuhputzer, Wagenwäscher, Fensterreiniger und für Mr. Fang Liu in seinem Kellerladen nahe des Broadway, der jetzt mit kurzen begeisterten Gesten die Cresspahlsche Wäsche von Marie entgegennimmt. Wenige können sich verstecken hinter versiegeltem Doppelglas und hochtourigen Klimamaschinen: eingesperrt in ihre kahlen, verspakten Türme auf der Ostseite versäumen sie die buntbrandigen Wolken, die die Luftfeuchtigkeit hinter den Riverside Park malt, verpassen sie die dumpfgetönten Lumpen aus Dunst, mit denen der Hudson verhängt ist. In all den Läden am Broadway, in denen jetzt Marie mit der Einkaufskarre umherzieht, kann sie Gespräche ernten mit dem bloßen Wort
pollution,
auch den Stolz der New Yorker auf das unvergleichbar schwierige Leben der New Yorker, das gegenseitige Mitleid, kann sie Seufzer tauschen und Lächeln einhandeln, wenn sie das Haar mit dem Unterarm von der verschwitzten Stirn zurückschiebt. Draußen, auf dem heißen, verdüsterten Damm, wird ihr sein als stieße sie mit dem Gesicht gegen stehendes hitziges Wasser.
Denn Marie geht einkaufen auf dem Broadway an manchen Sonnabenden. Früh morgens schleicht sie auf blanken Füßen an Gesines Bett, stiehlt ihr den Wecker und tapst auf Zehenspitzen zur Tür, die sie gegen behutsam federnde Fingerspitzen einschnappen läßt, wenngleich sie ahnt, daß Gesine den Atem anhielt wie ein wacher Mensch und längst auf dem Rücken liegt, die Arme im Nacken verschränkt, horchend.
Denn vor sechs Jahren die Vierjährige klammerte sich fest an Gesine vor den Schwingtüren zum Kindergarten, trommelte schreiend vor Wut gegen die Türen des Fahrstuhls, in dem die Mutter verschwunden war, legte sich während der Spielstunden oft schweigend und traurig, Zureden nicht zugänglich, auf den Fußboden des Klassenzimmers, das Gesicht zur Tür gewandt. Die Erste Erzieherin am Telefon machte Gesine Vorhaltungen, und nach drei Wochen brachte sie eine Liste der nötigsten Worte, die das Kind nicht hatte lernen wollen. Darunter waren solche wie Hand und Fuß, aufstehen, anfassen, suchen, und Gesine fing an, westdeutsche Zeitungen zu kaufen, wegen Stellenangeboten. Auf das Englisch, das sie sprach, hörte das Kind mit höflich verkniffenen Blicken, die sie nicht aus dem Auge ließen, und sie verstand, daß für Marie das Englisch die äußere Welt bedeutete, das Fremde, das nicht auch noch in diese Wohnung kommen sollte. Sie mochte dem Kind aber keine Belohnung fürs Lernen versprechen. Sie untersagte sich Mitleid, wenn sie das Kind allein zu dem Eisauto am Eingang des Parks schickte und ansehen mußte, wie Marie, die Hände mit dem Vierteldollar im Rücken verkrampft, für jeden Schritt voran einen halben zurück tat, abgedrängt von den anderen Kindern, vom Eishändler erst bemerkt, wenn er sich schon zum Weiterfahren gewandt hatte. Marie verleugnete sogar das Englisch, das sie wußte. Sie ließ die Verkäuferin im Supermarkt einen Papierdollar vor sie hinlegen mit der Frage: wer der in der Mitte dargestellte feiste würdige Herr sei, und obwohl die Kundinnen
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