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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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wer läßt denn heute noch die ganze Herde gegen Rotlauf impfen? Wenn aber sie anrufen, machen sie vorher einen Preis mit mir aus. Früher hätte ich abgeklingelt. Aber in solcher Notzeit, und als Jude …
    Was Sie nich sagn.
    Aber mein lieber Herr Cresspahl, sehen Sie das nich? Sie wissen doch, man sieht es. Sehen Sie mich mal an, Herr Cresspahl! Nu weiten Se dat, nich?
    Und Papenbrock wußte nichts gegen diesen Cresspahl zu tun. Dieser Mensch ließ sich auf eine Zeit nach dem Abendessen bestellen, dieser Mensch ließ Papenbrock allein seine Zigarre rauchen, er bestand nicht auf dem fälligen Rotspon, der Mensch war nicht zu kränken. Der Mensch hatte Geld, fast wie die lübecker Partie. Er würde ja vielleicht nicht geradezu Dr. Semig zur Hochzeit einladen. Und Papenbrock rutschte aus seinem Sessel, tappte in dem nahezu nachtfinsteren Zimmer umher, bückte sich mit seinen 63 Jahren unter den Schreibtisch, stellte die Flasche offen hin, goß ein und sagte, unverhofft in Hochdeutsch: Herr Cresspahl …, winkte meinem über alle Worte verblüfften Vater zum Aufstehen und fing an: Herr Cresspahl, denn wollen wir also verwandt sein. Sag mir mal, was sie dir für einen Vornamen gegeben haben.
    Lisbeth Papenbrock hatte sich meinen Großvater gut gezogen.
    Gesine Cresspahl verbringt diesen Sonntag auf Staten Island, in Tottenville, später auf der Uferpromenade der Midland Beach. Das Kind hat darauf bestanden, hier den Regen abzuwarten. Im Nordosten, jenseits der Atlantikbucht, sind die vom Wetter verschmierten Türme von Brooklyn zu sehen, manchmal weiß aufleuchtend unter Spalten in der Bewölkung. Hinter jenen Schlössern des Meeres, in den zweistöckigen Slums, bringen sie einander um.
    Über dem Ausflug hat sie die New York Times verpaßt. In einem Abfallkorb sieht sie einen Rest der heutigen Ausgabe mit einem großen Foto nach oben. Es zeigt, nicht deutlich, ein feistes dunkelhaariges Kind von etwa vierzehn Jahren, das in den Armen eines bäuerlich gekleideten Mannes liegt und gerade geküßt wird. Der Mann trägt einen Schnurrbart, sein Hemdkragen ist nicht amerikanisch. Er hat Ähnlichkeit mit Stalin in seinen besten Jahren.
     
    – Und dann? fragt das Kind. Dann war deine Mutter nach der europäischen Sitte verlobt?
     
    Dann war sie mit Heinrich Cresspahl, Kunsttischler aus Richmond, verlobt. Louise Papenbrock hatte den Tisch im Eßzimmer heimlich neu gedeckt und war beim Polieren der Gläser, als die Herren aus dem Kontor kamen. Mit dem Tuch in der Hand griff sie sich Cresspahls, versuchte ihm in die Augen zu sehen und sprach vom nötigen Wohlwollen Gottes. Cresspahl hielt das für harmlos, und Papenbrock, abgewandt zwinkernd, verzog sich zu seinem Weinkeller. Meine Mutter zeigte sich Papenbrock noch einmal als seine Vorzugstochter, ging bedienend um den Tisch, leise, nicht übermütig, zufrieden. Louise Papenbrock weinte, wenn es sich zu ergeben schien. Papenbrock trank Cognac und Mosel durcheinander und sprach über die hübschen Kinder, die seine Tochter mit Cresspahl in die Welt setzen würde,
    aber nicht mit deinen Knochen die Mädchen, Heinrich Cresspahl, prost!
    und sprach über Heinz Zoll, Tischlermeister zu Jerichow, den er auskaufen würde. Und meine Mutter setzte sich neben ihn und sah Cresspahl an, als bitte sie ihn um etwas, aber Cresspahl bewegte ernsthaft seinen Kopf, und sie sagte, ein wenig ängstlich, doch verschmitzt: Vadding wi bliewn nich. Und Papenbrock fuhr an sein Herz, wo ihre Hand schon war, und er grinste etwas geniert, weil er sein Erschrecken gezeigt hatte und eben daran gewesen war, es zu übertreiben.
     
    – Und Horst Papenbrock? fragt das Kind.
     
    Horst Papenbrock war nicht dabei. Darauf hatte meine Mutter geachtet. Der hatte Kameradschaftsabend bei den gneezer Nazis.

11. September, 1967 Montag
    In der gestrigen Ausgabe der New York Times beschrieb die Tochter Stalins den »Tod meines Vaters«, in der heutigen »Mein Leben mit Vater und Mutter«. Die beste Zeitung der Welt versieht die Memoiren der Überläuferin mit Fotografien in eigener Verantwortung, heute mit einer Aufnahme von 1935, in der Stalin der Kamera seines Oberleibwächters eine Nase macht.
    Und wir sind der Zeitung treu seit sechs Jahren! Einmal waren wir ausgeliefert an den Kettenhund der ostdeutschen Militärbasis, der innerhalb der äußeren Umzäunung wiederum in einen Maschendrahtkraal gesperrt war, so daß er sich mit keinem Zivilisten anfreunden konnte und sich entwickeln mußte zu einem

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