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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hinter ihr laut oder zischelnd einsagten, wartete Marie finster und schweigend ab, ob diese Leute endlich nachgäben und Deutsch sprächen. (Auf der Straße sagte sie empört: George Washington! als ob ich das nicht wüßte! ich kannte doch keine einzige von den Damen!) Für sie war das eine Probe auf ihr Selbstbewußtsein gewesen. Erst auf einem Ausflug hudsonaufwärts, als sie sich von zwei Jungen hineinziehen ließ in Fangspiele auf den Gängen und Treppen des mehrstöckigen, hausähnlichen Dampfers, verriet sie sich und rannte blicklos zwischen den Stuhlreihen hindurch vorbei an Gesine und sagte zu ihr wie zu einer Fremden:
Excuse me!
und ließ sich später finden auf den Stufen zur Brücke, wo sie den verblüfften Jungen erzählte von Düsseldorf und dem Rhein in einem sprudelnden Gemisch aus deutschen Wortstummeln und akustischen Kurven, in die sie die Satzmelodie der Rundfunksprecher übersetzt hatte. Aber die Jungen flogen am Abend zurück in ihre flußlose Stadt in Ohio, und Marie wurde von Kindern auf dem Spielplatz angerempelt und gebufft wegen der dicklippigen, brummenden Laute, die sie für amerikanische Währung hielt. Die Kinder hatten aus Fernsehfilmen gelernt, wie man den steifen Arm gegen die Wand stützt und eine Ecke für ein Opfer macht, und Gesine ging hinein in das Gerangel und griff ihr Kind heraus, weil es sich nicht wehrte.
    Aber die Marie, die jetzt die Vorräte für eine ganze Woche zwischen den klirrenden Türgittern des Fahrstuhlschachts herausführt, ist verstrickt in ein lauthalsiges Gespräch mit Mr. Robinson, und wieder läßt Mr. Robinson die Kabine offen stehen und prägt sich ein, wie das Kind in die Cresspahlsche Wohnung dringt und noch einmal erzählt von dem Stadtstreicher, der ihr auf dem Broadway die Einkaufskarre auszuräumen versuchte.
And I did not bother with being a lady!
Das Kind ist bei Schustek nicht von den Gehilfen, sondern von Herrn Schustek in Person bedient worden, und sie kostete drei Sorten von seiner Wurst, bevor sie kaufte. Gesine hält sich lange auf zwischen den Regalen eines Supermarkts, läßt sich täuschen von neu verpackten Waren, kauft aus Neugier, aus Appetit; das Kind geht hindurch zwischen den Lockfallen, blind gegen Plakate, taub gegen Durchsagen, mit unverändert langsamem Lidschlag, und tut keine Unze, keine Packung mehr in den Korb als auf ihrer Liste steht. Heute hat das Kind jene Verkäuferin, an deren Kasse sie einmal die Auskunft über George Washington verweigerte, ertappt bei zuviel gedrückten 21 Cent, und die Kassiererin hat sich ohne Geschrei entschuldigt vor dem Kind und den Kundinnen in Hörweite. Das Kind versucht Gesine anzudeuten, welches Gesicht eine Kundin in Hörweite zog, die bisher nur sich den Mund fußlig redete über die Schummelei an den Kassen und nun aufgebracht ist über eine Zehnjährige, die den Schwindel nachweist; der säuerliche Ekel der Matrone verzieht dem Kind das Gesicht bis unter die Haare. Und das Kind hat die heutige New York Times nicht vergessen, einen säuberlichen Ballen, unverrückt im Maschinenknick, das Bewußtsein des Tages. Sie legt das Papier neben Gesines Frühstück wie ein Geschenk.
    Der Kriegsminister will nicht ausschließen, daß Rotchina in den Südostasienkrieg eintritt. Jedoch würde er das für einen sehr schlecht beratenen Entschluß halten.
    Und erst auf Seite 48, zwischen Finanzen und Immobilien, meldet das besonnene Medium, daß in der ersten Jahreshälfte über 500 Zivilisten in Nord-Viet Nam durch amerikanische Angriffe getötet wurden, durch 77 000 Tonnen Sprengstoffe allein im März.
    – Und die 21 Cent: sagt das Kind nach einer Weile Abrechnens, mit seiner rauhen, katarrhalischen Stimme, die sechs Jahre in der verdorbenen Luft New Yorks ihm eingetragen haben: die 21 Cent habe ich den Bettlern gegeben, dem mit den blauen Haaren sechzehn, und dem an der 98. Straße fünf.

10. September, 1967 Sonntag
    Die Landwirtschaft braucht Steuererleichterungen! Überhaupt muß der Fiskus die Abgaben in Naturalien annehmen! Das Tarifrecht muß geändert werden! Der Staat soll lieber was gegen die Zwischenhandelsspannen tun! Wenn Berlin wenigstens die Einfuhren drosseln würde!
    So: klagte Papenbrock senior: könne der Mecklenburgischen Ritterschaft vielleicht noch einmal über das Jahr 1931 geholfen werden!
    Der Alte schrie nicht einmal, vertuschte auch nicht sein Asthma in den Pausen, zu denen die Zigarre ihn zwang, lag schlaff bei halbgeschlossenen Augen, gegen sein Sesselpolster in den

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