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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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auch. Hier geht Fürsorge aus von der New York Times, Sympathie und Beschützensdrang, ein Verhalten wie es sich schickt gegenüber einer jüngeren Nichte, zwar vom Lande und aus kleinen Verhältnissen, jedenfalls einer Verwandten.
    Unser Respekt gilt heute Mr. William S. Greenawalt aus Brooklyn. Er hat der New York Times vor gut zwei Wochen einen Leserbrief geschrieben, in dem er fragt: Wenn die Müllabfuhr es schafft, ihre weißen Wagen weiß zu halten, warum bringt die Verkehrsbehörde das nicht mit ihren roten Ubahnwagen fertig?
    Und die New York Times hat auch das für eine von den Sachen gehalten, die wert und/oder geeignet sind, gedruckt zu werden: fit to print.

12. September, 1967 Dienstag
    Wenn: gibt Swetlana Stalina zu verstehen in einer Zeitung für die Welt: wenn Beria nicht die mysteriöse Rückendeckung von seiten meines Vaters besessen hätte, wäre ihm nicht möglich gewesen, Stalins alte Mitkämpfer und seine halbe Familie umzubringen.
    Das sowjetische Parlamentspräsidium hat nach 23 Jahren für Recht erkannt, daß die Nation der Krimtataren zu Unrecht wegen Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht nach Zentralasien deportiert wurde. Weiterhin, die halbe Million rehabilitierter Staatsbürger darf nicht in ihre Heimat zurück. Wenn …
    Die Angestellte Cresspahl wird gebeten, sich nachmittags für eine Fahrt zum Flughafen Kennedy verfügbar zu halten; es wird dort ein Brief zu übersetzen sein. Eine Stunde vor Dienstschluß wird die Angestellte Cresspahl abgeholt von einem Mann in Livree, einem schweren alten Menschen von dunkler Haut, der ernst wie ein Börsendiener sich vorstellt als der Fahrer des Vizedirektors de Rosny, sie zu dessen Dolmetscherin ernennt und hinzufügt: Ich bin Arthur. In seinen kurzen krummen Haaren sind weiße Stränge, und er hält beim Sprechen die Uniformmütze in der Gegend des Herzens. Es gelingt der Angestellten Cresspahl nicht, ihm die Hand zu geben, er ist ihr schon aus dem Weg getreten. Sie sagt ihm, überrumpelt, halbherzig, ihren Vornamen, und er antwortet ernst, nachsichtig: Das ist ganz in Ordnung, Mrs. Cresspahl.
    Mrs. Cresspahl muß hinter ihm gehen wie hinter einem Diener. Seine Uniform, seine gemessenen Schritte, seine blicklose Miene stören die lässigen Feierabendgespräche zwischen den Maschinenkonsolen des offenen Büroraums, er läßt ihr nicht Zeit zu Abschieden, schon hält er ihr die Tür zum Hauptkorridor auf und läßt sie hindurchgehen wie etwas, das er nicht sieht. Vor dem Fahrstuhl besteht er darauf, ihr die Mappe abzunehmen. Während der Niederfahrt, allein mit ihr, macht er eine Bemerkung übers Wetter, das Gesicht gegen den Stockwerksanzeiger gerichtet, überhört ihre Antworten und wiederholt: Sehr wohl,
madam,
bis er im Keller sich vor ihr und de Rosnys Wagen verbeugen kann, den Schlag zudrückt und die Mütze aufsetzt. Sie fühlt sich angeliefert, befördert und eingeschlossen wie ein bestelltes Paket.
    Der Wagen des Vizedirektors, von außen ein schwarzes Schlachtschiff von fünf Metern Länge, ist die Schale für ein Privatabteil erster Klasse, eine rundum gepolsterte Kabine mit vier Sitzen, Telefon, Leselicht, Schreibplatte. Von der äußeren Welt ist die Kabine geschieden durch dunkel getöntes Glas und eine dicke Trennscheibe zur Fahrerkanzel hin, offenbar auch durch eine schwingfreie Aufhängung, denn das Innere verrät nicht den Satz, den das Gefährt aus der tiefen Auffahrt auf die 46. Straße macht, und nicht die Sprünge, in denen es den Abfall der Zweiten Avenue hinuntersetzt, der breiten Mulde vor den Fliesenröhren des Osttunnels entgegen. Es ist eine der bevorzugten Strecken von Mrs. Cresspahl, seit sie an das bleiche Licht und die Enge der Gewölbe unter dem East River sich gewöhnt hat, es ist der Weg zum Verreisen. Es ist ein Weg aus der Stadt, denn die Straße weitet sich zunehmend aus zwischen den Industriebauten Brooklyns, weiträumig abgesetzten Wohnhäusern und endlich den Schnellstraßen Long Islands, bis in der Gegend der Friedhöfe der Himmel fast unverstellt den Horizont verhängt. Die Steine der Begräbniskolonien bilden in Feldern gruppiert die Schwünge und Täler der ursprünglichen Landschaft nach, flackern niedrig unter verstaubten Nadelbäumen. Die Grabäcker sind Städte, von Mauern gesichert, durchzogen von anmutigen Straßenkurven, dicht bebaut mit schmalen Totensteinen, ähnlich den alten Einfamilienhäusern Manhattans, dann wieder geöffnet mit grünen Parks, in denen einsame Leichenpaläste an die

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