Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
neuester Veränderung, wir stocken das Honorar auf und bewundern die Kultur ihrer Gesten. Fast rührt uns die Mühsal, mit der sie uns auf einem mindesten Maß der Kenntnisse hält, wenn sie aus Cobh berichtet und vor die Neuigkeit noch setzt, Cobh liege im Südosten Irlands, in der Nähe von Cork, im County Cork, und sei ehemals berühmt gewesen als Anlegeplatz der Transatlantikdampfer. Wir achten ihre Objektivität und lassen sie sich selbst bezeichnen als »eine Zeitung von New York«. Eine Umstandskrämerin, ja, eine Konfusionsrätin, nein. Besorgt, jedoch nicht ohne Zärtlichkeit beobachten wir ihre Versuche, die Wandlungen des populären Geschmacks wenigstens anzuerkennen, wenn sie, plötzlich am 3. Juli 1966, ihre Drucktypen gegen größere auswechselt oder, unverhofft am 21. Februar 1967, das Datum im Kopf der Seiten kursiv statt recte setzen läßt; es steht ihr, und wir vertrauen auf ihren Sinn für Proportion, und für Proprietät. Eines, das träumen wir, tut sie uns nicht an: nicht für das modernste und zeitfernste Schneiderkostüm aus der Madison Avenue wird sie ihre strengen acht Frontspalten hergeben, nicht für eine noch so britische Antiqua nimmt sie die Unzio-Fraktur aus der Stirn, die Zierde des Alters, das Denkmal der Vergangenheit, so schwer entbehrlich wie die Ornamente des Jugendstils oberhalb der glasgeputzten Schuhe der Häuser von Manhattan. Solche Häuser halten den Brechkugeln unvermischten Profitrechnens nicht stand, sie noch hält die beiden Jahrhunderte zusammen. Inzwischen, konservativ genug, nimmt sie 10 Cent für ihre Dienste, und dreißig gäben wir aus freien Stücken.
Was geht’s sie an, daß wir sie … goutieren? Deswegen erst recht lädt sie sich die Tochter Stalins ins Haus, ein mit 41 Jahren nicht erwachsenes, apperzeptiv defektes Kind, das vom zwanzigsten Jahrhundert nichts deutlicher begriffen hat als seine privaten Lebensumstände, eine nicht heilbare Tochter, die wie nur je ein abhängiges Kind den Vater entlasten will von den gefühllosen Feststellungen der Geschichtsbücher, ihn freisprechen möchte mit den Tugenden seiner Freizeit, in der ihr er Neigung zeigte, jedoch nicht ausreichend, um sie aufzuklären, etwa dahingehend, daß Politik und Revolution nicht aus dem Himmel der Religion gesandt sind, wohin gleichwohl sie den teuren Toten denkt. Jedoch ist es nicht allein Schadenfreude, wenn die Tante Times ihre Familie zusammenruft zu täglichen Fortsetzungen über das Ergebnis, das fünfundzwanzig Jahre Unterricht im dialektischen und historischen Materialismus an einer bevorzugten Schülerin gezeitigt haben. Es ist nicht allein mokant, wenn Tante Times der Swetlana Stalina den Mädchennamen ihrer Mutter zubilligt, die Bezeichnung einer Schriftstellerin; zumal ja die allgemeine Kenntnis des Sachverhalts geschäftlichen Schaden verhütet. Es ist nicht nur tückisch, wenn die Times der Infantin die Behauptung durchgehen läßt, die Geschichte der Sowjetunion und des internationalen Kommunismus sei in den entscheidenden Momenten von einem Menschen namens Lavrentij P. Beria bestimmt worden, jedoch in einem redaktionellen Kasten das Jahr 1938 als Beginn seiner Amtszeit hinzufügt (so daß erst einmal die elf Millionen Toten der sowjetischen Landreform von 1928-1932 Herrn Trotzki zugesprochen werden müßten, wäre er nicht außer Landes gewesen, oder Seiner Ehren Winston S. Churchill, mit dem der Vater der Unglückseligen immerhin darüber Worte wechselte (»das Schlimmste was ich hab machen müssen«), lieber als mit seinem armen Kinde). Es ist der Times nicht bloß Gelegenheit zum Hochmut, wenn sie der eigenen Nation Steuern vorenthält und das Honorar der Überläuferin an ein liechtensteinisches Institut überweist. Alle diese Antriebe dürfen wir vermuten; für gewiß nehmen müssen wir ein zarteres Gefühl. Denn die gestrige Ausgabe zeigte am Anfang der Auszüge aus dem Leben der Stalintochter die Autorin in ernster Münzenpose über schwarzem Kragen, zwar nicht der Tante Times ebenbürtig als Zeugin der Geschichte, jedoch in ihrer Nähe als Anwesende, immerhin zugegen bei Hasenjagden und Familienfesten, allerdings eines von den Kindern, die Josef Wissarionowitsch Stalin verwöhnte. Den historischen Anspruch vorsorglich festgestellt, kann die Times die erste Fortsetzung der Plauderei beginnen mit einer anderen Aufnahme, in der die Verfasserin erscheint mit einer weicheren Frisur, gutmütig lächelnd, über weißem Kragen: ein einnehmendes Bild. Größer ist es
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