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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hypochondrischen, introvertierten, schwer irritierten Typ, der noch wenn es junge Hunde regnete vor seiner Hütte stand und geiferte, und machte nicht Eifer ihm die Stimme überschlagen, so war es der Stimmbruch des Neuen Deutschland; einmal waren wir angewiesen auf die demokratischen Tugenden ältlicher Mädchen, die Beflissenheit, die Zanksucht, die Heuchelei, das abstrakte Gewissen, die Selbstgerechtigkeit von Jungfern, die so lange nicht berührt wurden, daß sie den Geschlechtsverkehr dann lieber gleich und überhaupt bestritten, die großbürgerliche Presse im Bereich des westdeutschen militärischen Stützpunkts; und wir waren gewiß: nie könnten wir eine ehrliche alte Tante wie die New York Times ganz und gar verachten. Und wir hatten 1961 die Wahl zwischen ihr und der Herald Tribune! zwischen konservativ dunklem Aufzug von Tagwerk und Pflichterfüllung, andererseits dem mehr appetitlichen Druckbild, den flotteren Fotos, einer auch ältlichen Figur, die dennoch auftrat mit Seide um die bleichen Haare, Schleifchen am Hals, Modefarben um die Lenden und Stiefeletten aus der Via Condotti; uns blieb keine Wahl. Nicht wie ein blindes Huhn ein vergessenes Korn findet, sondern wie die wache Elster Silber stiehlt, zuverlässig hörte die New York Times auch 1961 das Gras wachsen und die Mauer um Westberlin und beschrieb uns beides in Sätzen zweiter Ordnung, Zitaten aus erster Hand, mit Glossen, Fotografien, vorläufigen Summarien, in den kleineren Formen der Erzählung, und als der rhapsodische Gegenstand in allen Strängen zusammengesetzt war und die erste Schicht der Trennwand verlegt, versammelte sie alle Mittel der Beschreibung im epischen Fluß und lieferte in täglichen Berichten vom Bauplatz in Fortsetzung die Geschichte, die ihr gleich Historie gewesen war. Wie hätten wir an ihr zweifeln können. Damals kostete sie nur 5 Cent. Für 5 Cent nicht nur abwechselnd bedrucktes Papier, sondern die begründete Erwartung, daß Nachrichten bei dieser Hausfrau nicht unter den Teppich gekehrt werden, daß schmutzige Wäsche ihr ein Anlaß zum Waschen ist, daß jeder Schrank geöffnet werden kann, und in keinem hängt ein Skelett am Kleiderbügel! Diese Person des Vertrauens, sie hat uns ausgerüstet mit Gründen für ein Leben in New York! hier zum ersten Mal konnten wir unsere Anwesenheit zusätzlich mit Vernunft auslegen und sagen, daß eine hiesige Zeitung die Nachrichten aus Deutschland mit denen aus der Welt in ein richtiges Verhältnis setzt: in ein kleines, so daß sie uns half und dazu erzog, Wirklichkeit entgegenzunehmen mit Erwartungen und Urteilen, auf die Eltern uns ohnehin gestimmt hatten! Es war nicht nur Bequemlichkeit. Wir haben uns an sie gewöhnt wie an eine Person, die im Haushalt einen Sitz hat, und nicht am Tisch des Gnadenbrots, und nicht auf einem Altenteil. Wir wollten sie nicht ändern: ihr ist das Wohl und der Gewinn ihres Landes das Höchste vor der Welt, mit diesem Raster zogen wir ihr Vorurteile ab; oft kümmert der Egoismus ihres Landes sich nicht um ihren Anstand und Tadel, und wir fühlten uns gemahnt an die tragische Theorie des klassischen Jahrhunderts in der Literatur von Deutschland. Wir sind mit ihr verfahren streng nach dem Vorschlag eines Literaten der Gegenwart und haben sie behandelt mit Rücksicht und hilfsbereit: es sollte vor allem uns ankommen auf ihre Erfahrungen. Wir haben angesehen, daß sie dem griechischen König riet, sein Land mit einem Putsch zu verbessern, und daß nicht der König sondern seine Generale das Orakel vom Times Square verstanden, doch ist Gerissenheit das Mindeste, was wir alten Tanten zubilligen werden. Und danken wir ihr nicht die beschleunigte Erkenntnis, daß der westliche Block auch in Griechenland mit Faschisten zu Tafel saß? Sie blieb sich treu, und zeigte unvermittelt Abscheu vor der Folterung politisch mißliebiger Griechen. Und nicht die Besitzer der Zeitung, und nicht im Auftrag der Monopole und Parteien, entwerfen das Bild der Gegenwart nach Plan und Absicht,
    sie schreiben was die Bezieher des Blattes erwarten; Sie aber Gesine sind naiv:
    wie die Gräfin Seydlitz sagt. Mrs. Albert Seydlitz meint: daß Gesine in ihrem Mißtrauen gegen bürgerliche Traditionen versehentlich auch bloß mißbrauchte, im Grunde menschennötige schwarz malt. Wir müssen unser Leben nicht nur mit Brot ernähren; auch mit Beweisen, Kind.
    Wir sind des Umgangs mit der Tante Times bedürftig, wir geben die Ehrung des Alters drein. Sie deckt uns den Tisch mit

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