Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Besuch in Jerichow nahm unaufhörlich an Wirklichkeit zu. Schon ängstigte sie sich davor, ihn zu verlieren; sie wünschte sich, vor ihm zu sterben.
Cresspahl war erschrocken. (Es war ihm nicht um das Geld, das sie auf diese Reise geworfen hatte; ihm war unbehaglich, daß sie sich geeinigt hatten auf sparsames Wirtschaften.) Er war erschrocken über die Einfälle, die er nach diesem von ihr gewärtigen mußte. Ihm war unheimlich, wie blind sie sich in einem Schritt, in einer Zeit mit ihm glaubte; wo ihn noch Fremde und Entfernung scheuerten, bemerkte sie keinen Abstand mehr. Sie kam ihm vor wie das Kind, das beim Eierlaufen vor Überschwang vergißt, daß auch die Spielgefährten die zerbrechliche Last ganz, zur Not mit feindseligen Tricks, ins Ziel bringen wollen; er fühlte sich verpflichtet, auch noch dafür zu sorgen, daß sie heil ankam. Jetzt war er ihr nicht nur durch sein Alter überlegen. Sie machte sich abhängig. Das hatte er nicht gewünscht.
Sie ließ ihn tagsüber arbeiten, und abends hatte er so viel für sie gedacht, daß er anfing, in einem fort zu reden. Sie waren einer des anderen so sicher, sie gaben einander Widerworte, nicht nur im Spiel. Mit Rührung wiederholten sie einander die Gelegenheiten und Orte, an denen sie früher hätten zusammenkommen können: 1914 auf dem Pfingstmarkt in Malchow, 1920 im Rathaus von Waren, 1923 in Amsterdam, im August 1931 für nur eine Minute auf dem schweriner Bahnhof. Alle Verluste schienen unausdenkbar; nunmehr waren sie davongekommen.
Sie führten einander aus (denn die deutsche Devisenbeschränkung von 100 Mark war eben aufgehoben), und wenn Cresspahl sie zu Schmidt in der Charlotte Street zu deutscher Küche führen wollte, wünschte sie sich ein englisches Restaurant. (Leslie Danzmann hatte ihr eins von ihren Kleidern gegeben.) Er ließ sie aus der Speisekarte wählen. Sie verstand, daß sie sich in der Sprache üben sollte, und er sah den Kellner ein Lächeln in den Schnurrbart schieben. (Es war nicht lange her, da hatte er mit Elizabeth T. im White Horse in Dorking gegessen. Das White Horse hatte er auch zu opfern.) Sie wollte ihn nicht erziehen, wenn sie ihm einen Patentrasierer kaufte, sie wollte den Anschein davon. Sie war so übermütig, auf dem oberen Deck einer Straßenbahn zur Hauptverkehrszeit fiel von den Umsitzenden Lächeln für sie ab, auch für Cresspahl. Einmal hatte sie, mit ihrem Portemonnaie auf dem Tisch, eine Rechnung bezahlt und legte die Hand auf seinen Tabaksbeutel und steckte ihn in ihre Tasche, damit er ihn nicht zu tragen brauchte, damit er sie später darum bitten konnte, damit sie ihm später etwas geben konnte.
Er hatte einen Tisch gemacht, ein leichtes und festes Eichengestell, daran konnten sie mit vier Kindern sitzen. Es war ihr recht. Er zeigte ihr seine Zeichnung für Betten, und sie bestellte sich eins, in dem sie zusammen liegen konnten. Ihm war es recht.
Sie erzählte von ihren Spaziergängen in Richmond, von ihren Urteilen über einzelne Geschäfte. Die gewundene Hauptstraße erinnerte sie an Gneez, die Haus für Haus ausgearbeiteten Fassaden, auch die geringe Größe der Läden, die vielfach überlaufenen Gehsteige. (Er sah sie an; es fiel ihm nicht auf, daß sie die längste Zeit von der Parish Church sprach.) Er wollte Dank zeigen und fragte nach Jerichow, und sie machte aus Jerichow geringschätzige Geschichten:
Bäcker Molten hat in seinem Schaufenster ein handgemaltes Schild: Deutsche, eßt deutsches Brot! Sie hätte zu Hause nicht darüber zu lachen gewußt, aber vor einem Schaufenster mit Backwaren an der George Street konnte sie sich nicht lassen vor anhaltendem dunkelkehligem Kichern.
(Sie erzählte ihm nicht, daß Pastor Methling von der Kanzel herab gegen die Vermessung von jerichower Boden für eine katholische Kirche gewettert hatte. »Und darum zum Reformationstag mit Zylinder in die Kirche!« hatte er ausgerufen. Da Jerichows Handwerk sich einrichtete auf große Stücke aus diesem Auftrag, mußte Schneider Pahl jeden Tag einen neuen Zylinder in sein Fenster stellen. Die Handwerker von Jerichow gedachten Pastor Methling seine Zylinder wohl zu zeigen, wenngleich nicht aus seinen Gründen.)
Sie machte ihren Bruder komisch, um Cresspahl einen Gefallen zu tun: Horst Papenbrock, der im braunen Hemd und Schulterriemen zum Abendbrot kommt, mit dem auch uniformierten Griem mehrmals die Stadtstraße abschreitet, nur weil die Reichsregierung das Verbot der S. A. aufgehoben hat: als Anzeige. Horst
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