Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
Schädel, auch seine etwas unterwürfige Strenge, mit der er sich zur Dame an seiner Rechten lehnt. Diese Dame, in einem uniformähnlichen Kostüm, das ihre eckigen Schultern herausbringen soll, war vielleicht eine Verwandte der Bothmers und hieß Isa. Die Frau an Papenbrocks anderer Seite kenne ich als meine Mutter; es ist mir versichert worden. Sie trägt nunmehr eine vielleicht grünliche Bluse, die mit einer dünnen weißen Kordel locker um den Hals zusammengezogen ist; die Aufnahme überrascht sie mit einer Hand hinterm Kopf an den zu einem Helm gesteckten Haaren, so daß sie lacht, vor Vergnügen an ihrer Ungeschicklichkeit, aber als stünde ihr Lachen nicht. Diesem Gesicht war meins 1956 ähnlich. Die Fotografie ist dadurch verdorben, daß Cresspahl dem Objektiv die Hälfte seines breiten Rückens zukehrt, im Gespräch mit dem Rechtsanwalt aus Krakow, der Hilde Papenbrocks Erbteil vertrunken hat und ihr ein Unglück nach dem andern beibringt; und diesem Menschen, ausgestoßen aus der mecklenburgischen Anwaltskammer, der unerschrocken seinen schwarzen Scheitel hinhält, vergnügt und womöglich nur verschmitzt mit seinen verkniffenen Augen, seinem festen Backenfleisch, dem trinkt Cresspahl zu mit Cognac. Neben diesen beiden hat die Kamera einen Herrn beim Weggehen aufgehalten; Semig mit dem Hasenkopf, Semig mit der breiten flachen Bürste vorn an seinem geschorenen Hasenkopf, Semig mit den krummen Lippen und der gekrausten Nase, er muß aber gar nicht niesen, er möchte liebenswürdig erscheinen. Semig ging noch vor Ende des Kaffeetrinkens. Er blieb hinter meiner Mutter stehen und beugte sich über ihre Schulter, nicht lange, für vier Worte (Glück werden Sie haben mit dem Mädchen, Cresspahl). Den anderen nickte er beim Verlassen des Raums zu, und bei Bothmers wie bei Papenbrocks galt sein Verhalten noch lange als erstaunlich taktvoll für einen Juden, und für einen Akademiker. Pastor Methling war sauer auf Semig, weil er nun nicht mit Anstand sitzen bleiben konnte. Als er aus der Tür war, kamen die Schnapsflaschen auf den Tisch, und als meine Mutter und Cresspahl mit dem Schnellzug Nummer Zwei gegen viertel zehn in Hamburg ankamen und über die Kirchenallee zum Hotel Reichshof gingen,
     
    – waren sie verheiratet: sagt Marie. (Sonnabend ist der Tag der South Ferry, wenn Marie ihn dazu erklärt.)
     
    Der Agitator Che Guevara hat für nötig gehalten, sich fotografieren zu lassen im bolivianischen Busch. Zwar zeigt ihn nun die New York Times im Kreise seiner Kampfgefährten. Soll die ganze Welt zusehen, wenn er Kopf und Kragen verliert?

24. September, 1967 Sonntag
    » DIE DEUTSCHAMERIKANER MARSCHIERTEN MIT JODELN UND HÜBSCHEN FRAULEINS
    Gestern nachmittag war auf der Fünften Avenue und in Yorkville Jodeln zu hören, als die Deutschamerikaner zum zehnten Mal ihre jährliche Steuben-Parade abhielten.
    Zu sehen waren außerdem Bierkrüge in allen Größen, hübsche Mädchen vom New Yorker Turn-Verein, die Rad schlugen, und ältere Mitglieder des Vereins Deutscher Kriegsteilnehmer, die Eiserne Kreuze des Ersten Weltkrieges mitführten.
    Anwesend war auch Gouverneur Rockefeller, der auf der Tribüne an der Fünften Avenue und der 69. Straße jede Hand im Umkreis von drei Metern schüttelte, Besuchern aus Westdeutschland den Rücken klopfte, jeder vorbeiziehenden Lederhosenschar applaudierte und dem Justizminister New Yorks, Louis J. Lefkowitz, eine blaue Kornblume, das Symbol der Parade, an den Rockaufschlag steckte.
    Wie gewohnt während ethnischer und anderer Paraden auf der Fünften Avenue, war der Verkehr auf der Ostseite für Stunden blockiert. Außer der Fünften Avenue waren auch die Umgehungsstraßen quer durch den Central Park zeitweilig für alle Fahrzeuge gesperrt, Busse ausgenommen.
    Einer der ungefähr 40 Festwagen in der zweistündigen Parade trug ein großes Portrait des verstorbenen Kanzlers Dr. Konrad Adenauer, des ›Architekten der Deutsch-Amerikanischen Zusammenarbeit‹. Diese Darstellung war möglich durch Spenden des New York Staats Zeitung und Herold, einer deutschsprachigen Tageszeitung.
    …
    Viele Deutsch-Amerikanische Vereine, die sich an der gestrigen Parade beteiligten, zeigten die Traditionen und die Trachten von Gebieten, die niemals zu Deutschland gehörten, wie Transsylvanien (ein Teil Rumäniens) oder Gottschee (das jugoslavische Kocevje), oder die nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland abgetrennt wurden, wie Schlesien, das nun ein Teil von Polen ist.«
    © by the

Weitere Kostenlose Bücher