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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Dielen gewärmt hat liegt die Katze die ganze Nacht, so breit ausgestreckt wie sie kann. Sie horcht.
    Sie horcht auf die Taschenuhr auf dem Tisch, auf das Knacken des Stuhls.
    Amerika ist mir zu weit zum Denken.
    Wenn Jöche aufwacht, schickt er seine Frau nach mir sehen. Ob ich wohl lebe.
    In Malchow wurde ein Meister noch nur von Meistern auf den Wagen gesetzt und ins Grab gelassen. Die Tuchmacher und die Schuster, die hatten einen eigenen Leichenwagen.
    Im Februar vor diesem Jahrhundert war in Malchow Heitweckenmarkt. Heitwecken, mit Zucker und Zimt gewürzt, in der Form einer Narrenkappe. Vöeunsöbentich is nauch.
    Jetzt lehnte Jöches Fahrrad da an der Milchbank. Über den Stangen hingen die Teppichlappen aus Jöches Wohnzimmer. An der Hauswand die Kästen mit leeren Bierflaschen. Jöche war von der Eisenbahn zur Brauerei gegangen. Wo trinkt er all das Bier hin.
    Oh sie kamen gut aus. Jöche hatte das Holz kleingemacht für zwei Winter. Jöche hatte das Land nun doch umgegraben.
    Gras will er säen.

27. September, 1967 Mittwoch
    Am Montag wurde zum zweiten Mal ein Busfahrer in Harlem überfallen. Wie am vorigen Dienstag stiegen zwei hellhäutige Neger während der Hauptverkehrszeit zu, einer griff sich das Wechselgeld ($28.80), während der andere dem Fahrer das Messer an die Kehle hielt. Dem mußten die Schlitze mit sieben Stichen geschlossen werden. Die übrigen Fahrgäste hatten den Bus in wilder Flucht verlassen, schon um nicht gegen die Räuber aussagen zu müssen. Jetzt fährt die Polizei verkleidet Bus in Harlem.
    Die Ostdeutschen wollen hier einige Stunden Film von gefangenen Flugzeugführern in Hanoi verkaufen. Ihre Vorstellung von einem angemessenen Preis ist eine halbe Million Dollar.
    Und die Ferien waren vorbei, was, Lisbeth Papenbrock?
    Und daß ihr niemand half. Mrs. Jones, die in Cresspahls zwei Zimmern einen Anschein von Sauberkeit vorgetäuscht hatte und jetzt noch zur Wäsche kam, die konnte ihr nicht Auskunft geben über die Schlachter und Gemüsehändler von Richmond, die kaufte am Bahnhof von Brixton ein. Und Mrs. Jones hielt sie für die gnädige Frau, sie ging unziemlichen Unterhaltungen aus dem Weg, in denen sie ihre Meinung hätte mit Namen ausdrücken müssen. Und sie verstand Mrs. Jones nicht.
    Mrs. Jones sagte: Was für ein apartes Gesicht!, strahlend über ihr Enkelkind, das flache Schläfen hatte wie sie, so rechnerisch aus länglichen Augen sah, den Mund so zum Strich drückte wie sie. Lisbeth Papenbrock hatte verstanden: Was für ein getrenntes Glaubensbekenntnis! Den Klang dieses Englisch mußte sie sich wieder und noch einmal im Gedächtnis wiederholen, bis eine Erinnerung an die Schulzeit ungefähr einrastete. Diese Sprache war so schnell. Und die Melodie der Sätze schien zwar in einem einzigen hohen Ton versammelt, in Wirklichkeit schlug sie vielmals nach unten und oben aus und änderte die Bedeutungen. Das konnte sie Mary Hahn nicht anlasten; Mary Hahn hatte in der rostocker Töchterschule ein schottisches Englisch durchgesetzt. Und sprechen mochte sie so deutlich und langsam wie sie wollte, die Kaufleute unterbrachen sich doch beim Abwiegen und sahen ihr auf den Mund. Cresspahl, der soviel Englisch hatte wie ein Puertorikaner nach zwei Jahren New York, Cresspahl verstanden sie.
    Und sie hatte die Worte nicht! Sie konnte ein Gespräch führen über John Galsworthy oder Sir Thomas Beecham, aber auf einen Schmortopf, ein Passiersieb mußte sie mit dem Finger zeigen. An jedem Abend ließ sie sich von Cresspahl das Rezept für morgen aus Frieda Ihlefelds Hauskochbuch übersetzen (9. Auflage im Verlag von Friedrich Bahn, Schwerin i. M.), aber Cresspahl hatte wenig Erfahrung mit dem Jargon der Kochkunst, und ein Lexikon besaß er nicht. (Ein Lexikon mußten sie auch noch kaufen. Sparen war das nicht.) Und dann kam sie doch vom Einkaufen in die Werkstatt und fragte nach dem Wort für Semmelmehl, sehr geniert vor den Gesellen, denen Cresspahl dann das Gewünschte beschrieb, indem er die Herstellung erzählte und mit Gebärden andeutete. Und dann mußte sie ihre Gewichte in die englischen umrechnen. Und in den Restaurants, im Hotel war erwartet worden, daß sie nicht auf Sixpence sah; in Richmond wurde erwartet, daß sie auf den Penny achtete.
    Und Cresspahl sah nicht, daß sie getröstet werden wollte! Cresspahl kam vergnügt zu den Mahlzeiten heraufgestiegen und streckte die Beine lang unter den Tisch und lobte das Essen. Und sie sah etwas Neues an ihm: er vermochte seine

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