Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Louise Papenbrock mit ihrem Mann und der Braut, weil der Hochzeitszug nicht zu Fuß ankommen sollte; Papenbrock mit seiner ältesten Tochter, weil sie ihren bankrotten Mann auch noch betrunken angebracht hatte; die wiederum mit Horst, weil er den Mund nicht halten konnte über die anonymen Briefe, die Cresspahl angeblich bekommen hatte; Horst mit seinem Vater, weil er ihm nicht das Tragen der S. A.-Uniform zur Feier erlaubt hatte (obwohl Pastor Methling bereit gewesen war, eine Abordnung uniformierter S. A. für einen vaterländischen Auftritt zu halten), weil sein Schwager aus Krakow wiederum Hilfe aus seinen Schulden bekommen hatte, weil Lisbeths Mitgift von seinem Erbe abging; Lisbeth mit Horst, weil er Cresspahls Verwandtschaft Proleten genannt hatte; Papenbrock mit allen, weil sie ihn zu einer Einladung an den ältesten Sohn in »Rio de Janeiro« hatten zwingen wollen;
recht eigentlich störte sie Cresspahls nachgiebiges Gehabe. Sie fand es nicht recht. Er hatte sich gefügt in das Datum des Reformationsfestes, die aufgesetzten Anzeigen für den Rostocker Anzeiger und das Gneezer Tagblatt und den Lübecker General-Anzeiger waren ohne Striche aus Richmond zurückgekommen, er hatte ihr den Willen gelassen mit dem Motto für die Predigt (»Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der taugt nicht zum Reiche Gottes«; Lukas 9, 62), er hatte zwar auf Dr. Semig, aber nicht auf den Wulffs als Gästen bestanden, er hatte am Ende von Papenbrock einen Hut angenommen, damit er auf der Schwelle der Kirche etwas zum Abnehmen trug, all dies in Verrechnung gegen die Zusicherung und das Vertrauen darauf, daß der Schnellzug Nummer 2 ihn mit ihr um halb acht aus Gneez vor Jerichow nach Hamburg retten sollte. Wenn aber er einen Handel wollte, warum legte er ihr nichts obenauf für den Willen zum Umzug ins fremde Land, der doch das größere Opfer blieb?
Dat dau ick föe di, Cresspahl. Föe di dau ick dat. Öwe sühst du dat?
Dies ist das erste Bild: Der Bräutigam mit meiner Mutter vor der Kirchhofsmauer, ihr Gesicht auf Augen und Lippen verkürzt, unkenntlich unter der Kante des langen Schleiers, der ihr einen Strich über die Stirn zog und darüber ihren Schädel nachbildete und bloßstellte in einer törichten und verletzlichen Gefäßform, er (längst ohne Hut) rechts von ihr, den linken Arm hinter ihrem Rücken ohne sie zu berühren, ein verkleideter Bauer in seinem lockeren schwarzen Anzug (von Ladage & Oelke, Alsterarkaden), ein Auswärtiger, der träg vorgeschobene Lippen anbietet anstatt des Lächelns, ein Fremder, der auf den Schnellzug Stettin-Hamburg vertraut. Dies Bild wechselt mit Cresspahls Mutter, einer Alten mit verzogenen Schultern, der unter ihren dürren schwarzgrauen Haaren die Glücksgrimasse an den gelben Zahnstummeln mißrät, so aufmerksam horcht sie in ihren verarbeiteten, überanstrengten Körper, uns’ lütt Oma, eineinhalb Jahre vor ihrem Tod. Neben ihr wird Gertrud Niebuhr aufgestellt, ihr zweites Kind, befangen und unbeholfen ob der Ehre und des Vorteils, die erst zu Hause das Fest auf das lebhafteste in Worten wiederholen wird, auch Martin Niebuhr, freundlich und starr in seinem ungelüfteten Festtagsanzug, auch Peter Niebuhr, Student der Forstwissenschaften aus Berlin, dem die Brillengläser die Augen verspiegeln, der sich hält als sei er in ein allzu entferntes Land geraten. Die alle konnten nur ein sehr südliches Platt. Und vor ihnen Stellmann rückt sein Stativ weiter und weiter zurück, streckt eine Hand mit drei schwörenden Fingern unterm schwarzen Tuch hervor, erfleht mit scharfen Kommandos mehr synchrones Mienenspiel. Und einmal ist der Halbkreis der vereinigten Verwandtschaft samt Pastor im Rücken schwarz abgedeckt von zahlreichen derben Männern, jeder unter einem schwarzen Zylinder, die nicht mit Bosheit ins Bild getreten sind aber in ihren steinern festlichen Mienen eine kleine Freude kriechen lassen, als sei an diesem Reformationstag Einer, und nämlich keiner von ihnen, lächerlich hereingelegt worden.
Dies Bild habe ich nie gesehen.
Das andere Bild ist eine Fotografie, versteift durch lackierten Karton mit der eingravierten Anschrift des Lichtbildners Stellmann, die Ansicht einer langen Tafel unter Blitz- und Lampenlicht in den Tafelaufsätzen und den Bratenplatten. Als ich es sah, war es kaum abgegriffen. Aber das Chamois war in seinem pappenen Etui nahezu dunkelbraun geworden und hatte die Gesichter neblig verwischt. Ich erkannte Papenbrock an seinem birnigen
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