Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
New York Times Company
» KLEIDERHÄNDLER ERSCHLAGEN IM LADEN AUFGEFUNDEN
Bürger von Queens nahe der hiesigen Hafengegend erschossen
Der Überlebende eines deutschen Konzentrationslagers, der sich Seeleute vieler Nationen in seinem Herrenausstattungsgeschäft am Hafen zu Freunden gemacht hatte, wurde gestern erschossen in seinem Laden aufgefunden.
Das Opfer, der 64 Jahre alte Max Hahn aus der 102. Straße Nummer 63-60, in Rego Park, Queens, wurde auf dem Fußboden des Ladens an der Zwölften Avenue Nummer 680, nahe der 51. Straße, mit zwei Kugeln in der Brust aufgefunden. Seine Füße und Hände hatte der Angreifer, der ihn augenscheinlich zu berauben versuchte, gefesselt, teilte die Polizei mit.
…
Offenbar tötete der Pistolenschütze Mr. Hahn, nachdem er ihn gefesselt hatte, indem er ihn zweimal aus dichtem Abstand in die Brust schoß. Mr. Hahns Taschen waren nach außen gewendet, aber die Polizei nimmt nicht an, daß der Mörder irgendwelches Geld gefunden hat.
Die meisten Kunden Mr. Hahns waren Mannschaften von den Schiffen, die im Hudson entlang der Avenue anlegten. Mr. Hahn, ein gebürtiger Pole, pflegte in der Tür des Ladens zu stehen oder davor zu sitzen und mit den Seeleuten, die an ihm vorbeikamen, Witze zu reißen (sie zu hänseln). Seine Frau, Ida, half im Laden, der an sechs Tagen der Woche geöffnet war, für gewöhnlich von acht Uhr morgens bis 11 Uhr nachts.
Sein Sohn war vor etwa zwei Monaten von einem Studium aus Israel zurückgekehrt.«
…
© by the New York Times Company
»Gestern ist der Herbst frisch und strahlend eingetroffen. Die amtliche Wachablösung trat um 1 Uhr 38 Minuten ein. …«
© by the New York Times Company.
25. September, 1967 Montag
Wieso: fragt er sich, fragt sie sich, fragen wir uns: hängt sie angeschnallt, rückwärts gekippt, in einer dreistrahligen Düsenmaschine in Warteschleifen über Pennsylvania? Aber die Klumpenwolken im Vordergrund und die ehemals ebenen Strata im Norden erinnern an die Arktis (an Bilder von der Arktis), die Kanten etwas schärfer gedacht, eisiger. Nur die Uhr wußte den Nachmittag, der weiße Glast unter der blauen Sphäre wiederholte lediglich »Licht«, »Licht«. Die Maschine liegt etwa vierzig Grad schräg, sie scheint zu zielen in ein blaues meerdunstiges Loch, in dem braungelbe Schmutzflecken menschliche Siedlungen anzeigen. Nur die Verschiebung der Tragfläche gegen die quellenden Wolkenballen beweist die abermalige Kurve. Das muß im April 1962 gewesen sein, da besorgte sie europäische Pässe mit amerikanischem Visum, die nach wenigen Wochen in Einschreibbriefen aus Mailand zurückkamen, als sei keiner von ihnen in Ostdeutschland gereist. Am Morgen in Minneapolis, im Spiegel gegenüber dem Bett, war sie sich am ganzen Leibe gelb erschienen, dem Tode um die Nacht näher. Es ist die Sonne, die absackt in die Wolkendecke, die die Tragfläche glühend färbt. Allmählich wird die weiße Himmelsplastik eingeebnet zu einem bläulichen struppigen Feld. Der Kapitän berichtete, den Passagieren zuliebe mürrisch, über neue Weisungen der Bodenkontrollstelle in New York. New York, werden wir es erreichen? Dann servierten die Stewardessen die zweite Runde Bloody Marys, fuseligen Wodka, der auf dem Tomatensaft schwamm. Solche Reisen übers Wochenende kann Eine sich nur leisten mit Blankoflugscheinen, wie sie Großaktionäre beziehen. Damit kann sie nicht über den Atlantik, und über den Pazifik nur bis Hawaii. In Mailand wohnte eine Zeitlang Vito Genovese als Nachbar von Karsch. In Minneapolis auf dem Foshay-Turm standen zwei Damen und ein Herr, die den Blick abwandten auf die Wälder und Wasserlöcher im Norden, wenn andere Touristen hinter ihnen durchdrängten. (Je vous assure que vos papiers d’identité ne serviront pas aux buts anti-communistes.) Wo war das Kind? Das Kind war bei Mrs. Ferwalter. Nein, in einem elften Stockwerk. Das Kind soll die New York Times besorgen. Das Kind, die zwei letzten Augen Cresspahls, als Hinterbliebene. Das Flugzeug kreist jetzt unter den Wolken, über einem dämmerigen Küstengebiet, winzigen Hausfunzeln, Autos sind nicht zu erkennen. Eine von diesen leeren Bruststimmen wird ins Telefon sagen: Marie, hast du einen Vater, eine Großmutter, etwas Verwandtschaft? Wehe, wenn du jetzt nicht tapfer bist! Unverhofft beginnt die Maschine zu rasen, prescht dicht über dem Atlantik auf Brooklyn zu, neben der verhangenen Verrazanobrücke, dem einsam in der Nacht aufgestellten Empire State
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