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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Kistentheke mit genau den gleichen Zeitungen, stumm, trübe, von keinen Vorkäufern verstellt, und sogar jene Passanten, die noch gar nicht das Neueste aus Wall Street erworben haben, halten nicht inne, als sei an einer so unaufwendig dargebotenen Ware etwas verdächtig. Wir kaufen da nicht und hier nicht, wir warten auf die New York Times.
    Um sein Schußwaffengesetz durch den Kongreß zu bekommen, hat Präsident Johnson den Bundesstaaten freigestellt, Gewehre und Schrotflinten für Bestellung und Versand durch die Post zuzulassen. Es müssen ja nicht immer Revolver sein.

30. September, 1967 Sonnabend, Tag der South Ferry
    Ganz ohne Zwischenfälle ist die Eröffnung der Schulen nach dem zweiwöchigen Streik nicht abgegangen. Als eine Lehrerin ihre Schule in Brooklyn betrat, wurde ihr aus einem vorbeifahrenden Wagen zugerufen: Du Judensau. Sie ist jedoch irischer Abstammung. Für eine Million Aktien gestohlen. 15 ostdeutsche Zuchthausjahre für amerikanischen Fotografen. Die westdeutsche Regierung antwortet auf einen Brief der ostdeutschen Regierung, als hätte sie ihn nicht gelesen.
     
    – Hatte sie Heimweh, deine Mutter, diese Lisbeth Papenbrock in Richmond? sagt das Kind.
    – Sie konnte nicht ausbrechen. Ihre Taufgeschenke, ihr eigenes Geld hatte sie verjubelt mit der Flugreise über Graal/Ostsee, mit Einkäufen für die eigene Küche. Sie mußte ja hier ein Bain Marie haben wie ihre Mutter in Jerichow.
    – In Jerichow wäre sie nur Gelächters sicher gewesen, nicht wahr? Sie wollte das Ziel der Klasse erreichen, nehme ich an.
    – Und am Ende hatte die Bürgerstadt Richmond selbst darauf bestanden, daß diese Mrs. Cresspahl mit ihr sich verhielt. Sie war eine Kundin, und wenn sie ihre Wünsche nicht ausdrücken kann, ziehst du eben alle sechs Reisschubladen auf und erklärst ihr die Sorten und nennst ihr die passenden Gerichte, eine wird sie schon nehmen. Und steht der Ladentisch erst einmal voll mit Töpfen zum Kochen, zum Schmoren, zum Braten, zum Dünsten, so muß sie einen erkennen als den gewünschten und kaufen. Und da sie nicht von Natur schüchtern war, kam bald das Benehmen ihrer Mutter hoch, die zu Verkäufern sagen konnte: Das können Sie gleich wieder wegnehmen, so etwas Billiges brauchen Sie mir nicht vorzulegen. (Das tat Louise Papenbrock aber nur außerhalb der Hörweite von Albert. Albert mochte nicht, daß man von ihren Manieren auf sein Vermögen schloß.)
    – Und die Leute, die ihr nichts verkaufen wollten?
    – Perceval und Jim waren anfangs geniert, mit dem Meister und seiner Frau zu essen, und schätzten an ihrer mecklenburgischen Küche vorerst, daß sie so das Geld für Fisch mit Chips an der Bude sparten. Nach einer Weile hatte sie gelernt, Hammel zuzubereiten. (Der Schlachter konnte bald feststellen, ob eine Kundin anständig kochte, diese belog er nicht mit seinen Empfehlungen.) Dann Mrs. Jones mit ihrer schielenden Enkelin, die blieb schon aus Neugier. Auch Straßenkinder, eine frierende abgerissene Meute, die konnten sich bei ihr auf ein Stück Brot verlassen. Wenn die am Tor des Botanischen Gartens von Kew lungerten, für eins zahlte sie mit, am ehesten für Mädchen. Ein Abendessen für Salomon. Salomon blieb zwar nur eine Stunde, aber er war gekommen.
    – Und der Pastor.
    – Kein Pastor. Sie erkannte ihren Gottesdienst in dieser Sprache nicht wieder. Sie hatte in den Lexika der Zentralbücherei am Green recht und schlecht die Unterschiede zwischen High Church, Low Church, Broad Church zusammengelesen; so recht protestantisch war keine von denen. Für sie hätte vielleicht die Low Church gepaßt. Sie traute sich nicht weit über die Schwelle. Da standen zivile Stühle, wie zu einer wandernden Versammlung. Der Prediger mochte sich Pastor nennen, sein prächtiger lila Umhang machte ihn für sie zum Priester. Und sie war verwirrt von der Vielzahl der Gemeinden in Richmond: da gab es die Kongregationalisten, die Baptisten, die Spiritualisten, die Christliche Wissenschaft, die Methodisten und die Presbyterianer am Little Green. In Jerichow gab es nur die Petrikirche. (Und sie hatte nachgefragt: Pastor Methling hatte sein Amt nicht wegen Krankheit aufgegeben.)
    – Und hatte sie so wenig Geld wie wir?
    – Cresspahl um mehr als das ausgemachte Haushaltsgeld zu fragen fiel ihr nicht leicht, ging ihr auch gegen den Stolz. Aber sie hatte etwas mehr auszugeben als wir, und sie hatte auch die noch unangewachsene Würde der jungen Hausfrau, die zum ersten Mal das Geld eines Mannes

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