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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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verwaltet. Und sie wollte nicht das Haus hinterm Gaswerk, das Haus mit der Werkstatt. Sie wünschte sich einen Neubau, nur zum Wohnen geeignet, etwas mit Erker oder Balkon, mit einem Garten rückwärtig (»für die Kinder«). Dafür waren achthundert Pfund, für Besitz auf Lebenszeit, auf den Tisch der Makler zu legen. Cresspahl hatte ihr freigestellt, die wenigstens zur Hälfte herauszuwirtschaften. Er hätte ihr ein solches Haus gleich anzahlen können mit seinen Ersparnissen; das verschwieg er ihr. Er wollte ihr Zeit lassen, wie man einem Kinde Zeit läßt.
    – Und was schrieb sie nach Hause?
    – Sie gab an. Sie beschrieb von Richmond den Park, die behäbigen Geschäfte in der George Street, Reiter im Park, Paraden der East Surreys in ihren roten Röcken, Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn an der Richmond Bridge. Die verrottenden Kästen ihrer Nachbarschaft, in die die Arbeiter eingesperrt waren, verschwieg sie. Wenn sie schon im Ausland guttat, sollte es für Jerichow ein beneidenswertes Ausland sein. Hier gab es die Kolonialwaren, Kaffee, Tee, Kakao, Trinkschokolade zu unvergleichlichen Preisen. Und sie schrieb: daß bei der Oktoberwahl die Kommunisten keinen ihrer 26 Kandidaten durchgebracht hatten und daß 21 nicht mehr als ein Achtel der Stimmen in ihrem Wahlbezirk bekamen und so auch ihre Kaution verloren. (Sie schrieb nicht, daß Cresspahl den Premierminister MacDonald für einen Verräter an der Labour Party hielt, weil er eingewilligt hatte, die Arbeitslosen-Unterstützung zu kürzen.) Einmal hatten sie auswärts gegessen, im Original Maids of Honour Restaurant, für 3 Schilling pro Person; sie schrieb von Restaurants wie von allwöchentlichen Zielen.
    – Gab sie ihm die Briefe zu lesen?
    – Sie gab ihm die Briefe zu lesen, und er las sie verstehen geben, daß sie glücklich war. Er sah sie freundlich an, von der Seite, etwas von unten, nicht ganz behaglich, aber so, daß sie den Blick nicht gewahr wurde.
    – Bekam Cresspahl noch Briefe ohne Absender aus Jerichow?
    – Sie bekam einen Brief ohne Absender, abgestempelt in West Central 1. Er war mit einer Maschine geschrieben und bedauerte ihre Abgeschlossenheit vom geselligen Verkehr im Ausland. Hingegen mit Mrs. Trowbridge werde sie sich gut verstehen.
    – Diesen Brief zeigte sie Cresspahl nicht.
    – Den behielt sie für sich. Sie hatte ihm von Herbert Wehmke, Fähnrich zur See, nicht einen Ton gesagt. Sie wollte es ihm nicht für immer verschweigen, aber noch für eine Weile.
    – Wetten? sagt das Kind: wetten, daß es kracht? Wetten?
     
    Denn manche Fährkapitäne zielen zu spät auf das Becken, so daß das schwere Schiff gegen die hölzerne Pfahlwand der Einfahrt kracht, beim ersten Mal hart, dann mit einem mehr gedämpften Ton. Dann ist das Ächzen der Stämme im aufquirlenden Wasser zu hören.

1. Oktober, 1967 Sonntag, Beginn der Heizperiode
    Nun werden die Morgenträume wieder interpunktiert von den Nöten des heißen Wassers, das Mr. Robinson aus dem Keller in freistehenden Rohren durch Stockwerk nach Stockwerk aufwärts schickt. Das Wasser erschrickt vor der kalten Luft, prallt allseitig vor der ungleichen Federung, so daß im Schlaf ein alter Kerl erscheint, neben dem Kopfende des Bettes aufragend, der hat eine eiserne Kehle, eine schartige Röhre hat der im Hals, der atmet mit Rasierklingen, der frißt Glas und Schrott. Noch springen kleine Kiesel auf und ab, knallen hin und her. Unverhofft beengt, führt der Atem des Wassers schnelle ängstliche Schläge gegen das Metall. Der gleichmäßige Rhythmus zerfasert in schwächlichen, versiegenden Herztönen. Der Kerl denkt nicht ans Sterben, der treibt sich einen Stacheldrahtbesen in die Kehle, unter kratzenden, kitzelnden, schabenden Lauten, die geradezu behaglich klingen. Zum Nachräumen schickt er kleine Männer mit scharfen Hämmern hinein, die das Rohr abklopfen mit bedächtigen, unverhofften Hieben, abwechselnd mit dem spitzen und dem stumpfen Ende. Die werden alle in mehreren bürstenden Schwüngen hochgehustet und stürzen dann dumpf unten auf, mit einem Zirpen, als brächen ihnen die Knochen. Langsam spült der Kerl nach, aber nicht in einem Schluck, sondern mit einzeln fallenden Tropfen, die hüpfen wie die Flöhe. Ein Scherbenhaufen rasselt abwärts, ineinander klirrend, ohne indessen aufzuschlagen in dem schmetternden Knall, den die Erwartung vorbereitet hat. Die Scherben sind verklumpt in gläserne Bälle, mit denen gurgelt einer. Jetzt hüstelt er. Er fühlt sich nicht

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