Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Ohren zu verschließen. Was er nicht hören wollte lief ab wie Wasser an seiner wachsamen freundlichen Miene. Er sah sie an, er erbaute sich in den Mundwinkeln über den Anblick, er sah um ein Winziges an ihren Augen vorbei, er hörte sie nicht klagen. Das hatte er nicht gemacht, als sie noch Lisbeth Papenbrock war. Auf die Art konnte sie einen Streit nicht bestehen.
Heinrich, du, was Schlimmes. Pastor Methling will in Pension gehen mit achtundsechzig, der ist sicherlich krank.
Angestellter ist er. Mit seiner Pension, was soll er länger arbeiten als er muß.
Heinrich Cresspahl! Ich will dir was sagen! Seine Arbeit ist um Gotteslohn, und du spottest über einen kranken Mann.
Der hat gesund gelebt. Und Gotteslohn ist noch Vorzugsbehandlung bei seinem Arbeitgeber.
Nach dem ersten Streit über die Kirche setzte sie ihm das Essen hin, aß aber nicht mit ihm. Zwischen den Mahlzeiten ging sie aus dem Haus, um ihn zu strafen, weit weg in die Stadt. Sie fror vor dem fremden November. Die Ähnlichkeit der historischen Gebäude mit ihren Vorstellungen von ihnen war niederdrückend. Vogelschwärme über den Dächern von Parliament Street, weniger als die war sie hier zu Hause. Ein Soldat der Königlichen Garde, den Säbel vor der Nase, ging mit wuchtigen Schritten hin und her inmitten der Passanten und sah aus wie ein ungeheures Huhn, weil der Helm nicht viel von seinem Gesicht sehen ließ und das rote Helmbüschel obenauf doch sich hätte sträuben können. Das war ihr unlernbar: daß im Union Jack ein weißgerandetes rotes Georgskreuz auf schrägem Andreaskreuz auf blau, über rotem, schrägem Patrickskreuz sitzt. Im Grasfeld zwischen Westminster Abbey und St. Margaret waren Poppy-Friedhöfe hergerichtet, für die militärischen, die halbmilitärischen, die feuerwehrähnlichen Verbände, kleine Holzkreuze mit roter Rosette wurden feilgehalten, fertig zum Einstecken angespitzt. So hatte der Mohn am Ende des Krieges in Flandern geblüht. Das war nicht zum Andenken an die Toten ihrer Seite. Und wenn sie doch zu Cresspahl zurückging, Meilen lang neben immer den selben Doppelhäusern mit immer den selben mal eckigen mal gewölbten Balkons, immer den selben lackierten Säulen, unter den weißen und gelben Laternen, mit den Füßen im nassen Laub, war sie es nicht zufrieden, daß ihr die Christenpflicht vorschrieb, Cresspahl zu verzeihen. Es fiel ihr schwer, das ihm zuliebe zu tun. Sie fühlte sich übervorteilt.
Cresspahl dachte: es reicht, wenn Einer sich mit Umarmen entschuldigt. (Er ahnte auch nicht wofür.)
28. September, 1967 Donnerstag
Morgens, in der ersten schattigen Front der fünf gläsernen Türen, sehe ich die weißlichtige Gegenseite der Straße gespiegelt, und ihr Ausschnitt mit Ladenschildern, Schaufenstern, Passanten tut verletzt wie etwas Friedliches, wenn ich ein Fünftel von ihm in der aufgezogenen Tür wegkippen lasse. In der zweiten Klapptürfront des Windfangs stellt sich der Spiegel verwischter her, zerbricht fast gänzlich in gleichgroße Teile der neben mir schwenkenden Türen, kommt zurückgeschwungen im Widerschein der hellen Marmorflächen im Foyer und ist nun ein Bild aus Schatten, stillen und losen, oben von einhängendem Dunkel eingefaßt wie von Baumkronen, und zwischen den gleitenden Abbildern von Schattenmenschen ist der Hintergrund tief geworden, weißliches Seelicht gesehen unter Laubgrün, Boote auf dem Wasser, vor mir unverlierbar gewußte Umrisse, Namen voll Zeit, und erst wenn ich das Bild an der von Neon beleuchteten Ecke des Fahrstuhlschachtes verliere, versieht mein Gedächtnis den freundlichen Anblick und Augenblick und Moment mit einem scharfen Rand von Gefahr und Unglück.
So der dick bedeckte Tag aus Dunst über dem jenseitigen Flußufer, über den austrocknenden Laubfarben vor dem verwischten Wasser, verspricht einen Morgen in Wendisch Burg, das Segelwetter zum Morgen vor vierzehn Jahren, erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung.
Gespräch im Fahrstuhl: Die und die hat geheiratet, und am nächsten Tag mußte er doch einrücken.
Da bin ich überfragt.
Viet Nam wahrscheinlich.
(Elf Zuhörer.)
Regenschauer am Abend.
29. September, 1967 Freitag
So ist es recht. So erwarten wir es. Im ersten Blatt spricht unsere gute alte New York Times mit keinem Wort von dem Loch, das gestern ins Schaufenster der Bank
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