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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Fenstern ist jetzt ganz beleuchtet von der Oktobersonne, die allen Farben einen Stich ins Unglaubliche zufügt, den gelben Laubsprenkeln im Gras, der Elefantenhaut der kahlen Platanen, dem bunten Astgewirr der Dornbüsche auf der oberen Promenade, dem kalten Hudson, dem verwischten Walddunst auf dem jenseitigen Ufer, dem stählernen Himmel. Das Sonntägliche ist auf einen Sonntag gefallen. Es ist ein nahezu unschuldiges Bild, in dem Kinder und Spaziergänger leben wie harmlos. Es ist eine Täuschung, und fühlt sich an wie Heimat.

2. Oktober, 1967 Montag
    Dej Bůh štěstí
    steht gemalt in bunter Fraktur auf dem neonweißen Glaskasten, der den Vordergrund des Restaurants »U Svatého Václava« in Hälften trennt. Es sitzt versteckt auf der Ostseite Manhattans, in den siebziger Straßen, inmitten ungarischer und deutscher Wohngebiete. Der Weg dahin führt von der Lexington-Ubahn über die Dritte und Zweite Avenue, entlang baufälliger Quartiere, auf zerrissenem Pflaster, vorbei an Ladenbesitzern auf Wache bei ihren Auslagen, unter den Blicken von Nachbarn im Gespräch auf Treppenstufen, hindurch zwischen Unrat und narbenstarrenden Katzen, neben verlassenen Schulhofwüsten und demontierten Autos zu einem kleinen Wohnhaus, dessen Erdgeschoß kein Restaurant zu erkennen gibt. Die blaue Tür deutet mit dünnstrichigen Rechtecken in weiß und rot die Farben der tschechoslowakischen Republik an, und Tschechisch spricht das Publikum drinnen an den abständigen Tischen, vertraulich, überhörbar, als sei dies immer noch die Zeit des Bürgertums auf der Kleinseite von Prag. Das abonnierte Publikum ist bejahrt, förmlich gekleidet, würdig, die von Ehe mundtoten Paare wie jener einzelne Herr, der über erhobenem Glas die Lippen bewegt, als spräche er mit Toten, die allein noch sein teigiges vergreistes Gesicht erkennten. Jünger, und flotter angezogen, sind die Vertreter der Č. S. S. R. bei den Vereinten Nationen, die Verwalter wie die Spione der neuen Macht, die hier unbefangen neben den Entmachteten und Flüchtlingen ihres Landes das gleiche Heimweh nach böhmischer, tschechischer, auch europäischer Küche abfüttern. Die mögen alle wissen, was »Dej Bůh štěstí« bedeutet; wir wissen es nicht, und auch Dmitri Weiszand traut sich nicht an eine Übersetzung.
    Dmitri Weiszand, Gastgeber von Mrs. & Miss Cresspahl an diesem Abend, ist geniert. Er sollte es wissen. Denn dieser Herr mit den slawischen Knochen in seinem Gesicht, dem schweren östlichen Akzent, dem herzlichen Gehabe, ist von Geburt Pole, den Tschechen benachbart, und nicht ihrer Sprache? Aber Pole ist er nur von Geburt. Als die Sowjetunion 1939 Ostpolen aus der Kriegsbeute der Nazis wie abgemacht an sich zog, riß sie auch das Kind Weiszand unter ihren Nagel und wechselte seine Staatsbürgerschaft aus und lehrte ihn in der sonst unveränderten Schule die russische Sprache und noch so ein schwieriges Fach, genannt Patriotismus. Da hatte er schon mit den hinteren Bänken vorlieb nehmen müssen. Als zwei Jahre später die Deutschen die Beute zurücknahmen, kassierten sie auch den Schüler Weiszand, aber eine Staatsbürgerschaft hatten sie nicht für ihn, und in einer Schule sollte er nicht einmal mehr Tschechisch lernen. Später war er einmal zum Behelf und auf zwei Jahre Deutscher, und die Amerikaner, als sie ihn einließen, schrieben ihm das als Herkunft in seine Papiere. Er kann an Deutsch wohl zehn Worte. Und dieser Herr Weiszand mit seinem jugendlichen braunen Haarschopf, dem fülligen Gesichtsfleisch, einer von Alter fast nicht beschädigten Mimik und Haut, er ist in seinen vierziger Jahren, ein Absolvent mehrerer Lager in Osteuropa, in denen er Französisch, Rumänisch, Italienisch, Holländisch und eben auch Tschechisch hätte lernen können, aber die Lehrer waren nicht bei der Sache, und als er in New Jersey ausgeladen wurde, kam er ohne Geschwister und Eltern, da war ihm die Erinnerung an sie so zuwider wie die Sprachen Russisch und Polnisch, in denen sie auftraten. - Einer meiner Freunde ist Professor für Slawistik: sagt Mr. Weiszand geniert: Er wird es für uns herausfinden, dej Bůh štěstí.
    Marie ist nicht gern zu Gast im Restaurant Zum Heiligen Wenzel; es gehört zu den Vorlieben, die sie Gesine nachsehen will. Sie kann sich nicht mit dem Gespräch nebenan unterhalten. Der Abstand zwischen den Tischen, die weißen Tücher, die zu Bischofsmützen gefalteten Servietten, es erinnert sie an Reisen nach Europa. Sie mag aber dies Land nicht

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