Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
der Franklingesellschaft geschossen wurde. Erst mach die Schularbeiten, dann darfst du spielen: sagte Grete Selenbinder, die Nenntante, die Schlüsseltante, die Weinetante. Die Schularbeiten sind die Luftkämpfe über Hanoi; die Abstimmung der Lehrer über ihren neuen Kontrakt mit der Stadt; daß die Regierung der Č. S. S. R. sich von ihren Schriftstellern eine Zeitschrift geklaut hat; daß der linke Flügel des Sozialistischen Studentenbundes in Westberlin von Herrn Rudi Dutschke geführt wird. »Manchmal nennt man ihn ›Red Rud‹ oder ›Revolutionary Rudy‹, aber er ist kein klassischer Marxist.« Das wäre das.
Jetzt darfst du spielen. Vorn auf dem zweiten Blatt, mit epischen Fotos und elegantem Druck auf 102 Quadratzoll, setzt die Times sich in behagliche Positur und hilft Begriffsstutzigen mit einem besseren Wortwitz auf die Sprünge: »Die Kugeln fliegen, und zwei Banditen in Stadtmitte rikoschettieren und retirieren.« Gleich aber steuert sie der bloßen Vergnügungssucht und setzt an den Anfang die Zensur: Die beiden haben den Banküberfall vom »tölpelhaften Anfang bis zum schmählichen Finish« verpatzt. Erster Fehler: sie fielen auf. Gehen in die Bank, 441 Lexington Avenue, mit braunen Papiertüten unterm Arm, wie wir sie zum Einkaufen nehmen, und haben sich schmalkrempige Hüte tief an die Nase gezogen. Zweiter Fehler: in ihrer Nervosität schlugen sie einen Wächter übern Kopf, als er sie was fragen wollte. Drittens, mangelnde Erkundung des Geländes: als ein anderer Wächter schoß, versuchte einer der Räuber eine Tür aufzukriegen, die nur nach außen öffnete. Als ihnen dies Rätsel endlich aufgegangen war, stürzten sie hinaus und verschwanden auf der Lexington Avenue, (und zwar in den dicken Menschenströmen auf der Lexington Avenue, Erläuterung für ortsfremde Bezieher der Zeitung). Vierter Fehler: sie machten eine Spur. Sie verloren ihre Hüte und ließen auch die Tüten zurück, in denen sie hatten ihre Beute davontragen wollen.
Und nun inszeniert die New York Times, zu unserem verdienten Genuß nach der Analyse, die ganze Geschichte noch einmal:
Es war gegen zehn Uhr.
441, das ist an der 44. Straße Ost. In der Bank war es still.
Nur zehn Kunden.
Der Wächter trägt eine Uniform. Er wird niedergeschlagen. Sie wenden sich zur Theke.
Einer hat einen Revolver.
Er richtet den Revolver auf den Filialleiter, weil der vorgetreten ist.
Einige Kassierer schreien auf und werfen sich auf den Fußboden hinter der Theke. Von hinter der Theke schießt ein Wächter in Zivil auf die Räuber.
Sie begreifen nicht woher die Schüsse kommen.
Sie drehen durch, sie hauen ab.
Von den drei abgegebenen Schüssen machte einer das Loch im Schaufenster.
Unterhalb des Lochs, vor dem Schaufenster (von innen gesehen) stehen mindestens elf Herren, alle ernst, beinahe finster, tief im Überlegen.
Das meinen wir, die große wissenschaftliche Geste der New York Times, ihren nüchternen und dennoch griffigen Beitrag zur Soziologie des Bankraubs.
Und so benimmt sich eine Dame alter Schule: sie mag sich herablassen zur Verfilmung eines Banküberfalls, aber Krawall läßt sie nicht zu.
Von dem Tisch, an dem sie ihre Gegenstände bedeutend verhandelt, fallen die Brosamen. Wir, gezwungen zur Abwesenheit in Arbeit, schmecken darin die Spur einer Rettung aus unserer Entfernung von asiatischen Orten und dem Haus nebenan. Wir bilden uns ein, sie hebt uns versäumtes Leben auf, gewärmt und noch frisch, als könnten wir es nachholen.
Auf der Lexington Avenue sind die Gehsteige noch schmaler als anderswo; mehr als anderswo drängen nach und vor der Bürozeit Passanten, sie beten um ein Taxi, sie fluchen auf einen Bus, sie hängen ihr Herz an den nächsten Pendelzug zum Times Square. Wir werden doch nicht über die Straße gehen, um das Loch im Schaufenster zu besichtigen: wir haben das Foto davon unterm Arm. Vor dem Bahnhof Grand Central, halb in den pressenden Fußgängerstrom hinein, ihn auf die Hälfte Raums quetschend, haben zwei Zeitungenverkäufer ihren Stand aufgebaut, und noch wer von den Prellungen des Hindernisses in den Rinnstein abgedrängt wird, hört sie belfern: Wall Street. Letzte. Wall Street. Letzte, und leiser: Danke mein Herr. Danke mein Herr. Das geht einsfixdrei, Geld und Zeitung treffen einander fast in einer Hand, und wer beide voll hat, bekommt das Papier unter den Arm geklemmt. Drinnen im Graybar Building, in der dämmerigen Halle zum Grand Central, stehen zwei Männer hinter einer
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