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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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verlassen. Die Geschichte vom Heiligen Wenzel, den sein Bruder Boleslav am 28. September 935 erschlagen ließ, die Erinnerung der Geschäftsleitung an ersprießliche Zeiten auf der prager Kleinseite, auf die Rückseite der Speisekarte gedruckt, es sind ihr zu alte Sachen. Die jungen Studenten, die hier als Servierer arbeiten, haben immer noch ihren Heimatakzent, sie sind ihr zu zuvorkommend. Auch ginge D. E. ungern in ein solches Eßgeschäft. Weiterhin, sie hat hier in dem roten Samtkleid mit dem Spitzenkragen erscheinen müssen. Sie ißt unbehaglich von ihrem fremdartigen Schweinebraten mit den auswärtigen Knödeln, setzt ihr Besteck steif hin und her, hört ungeduldig dem erfolglosen Wortwechsel zwischen Dmitri und Gesine zu.
    – Was sagen Sie zu den 8,8 Prozent, die die neuen deutschen Nazis in den bremer Wahlen gewonnen haben? sagt Mr. Weiszand, an der Cresspahlschen New York Times fingernd. Was immer solche acht Sitze im Landtag von Bremen bedeuten mögen, Marie hat es nicht anders erwartet als daß ihre Mutter auf eine unangenehme Weise die Schultern anhebt, den Blick auf dem Teller hält, vor der Frage scheut. Marie erinnert sich nun, warum D. E. europäische Lokale in New York ausläßt.
    Ich weiß es. Wenn ich damit leben soll, dann doch nicht in der Nähe von Juden.
    – Wie sehen Sie das Verhalten der Tochter Stalins an: sagt Gesine nach einer Weile, und Marie erkennt, daß die Frage ihre Absicht unterlaufen hat, daß sie sie wegwünscht, und tatsächlich wird Mr. Weiszands freundwillige Miene um ein Winziges starr, und er kommt nicht weiter als: Gewiß, eine Zeit lang gehörte ich zum losen Besitz von Herrn Stalin, jedoch …, und Marie gibt ihrer Langeweile nach und beginnt, vorsichtig, schiefhalsig, in der New York Times zu lesen.
    »(Reuters) Die Zeitung Bild am Sonntag meldete heute, daß Stalins ältester Sohn 1944 von den Nazis erschossen wurde, weil er sich geweigert hatte, vor russischen Arbeitern in einem berliner Rüstungswerk eine antisowjetische Rede zu halten.«
    Aber Gesines krumme Brauen, den nicht strafenden, nur besorgten Seitenblick hält Marie nicht aus, und sie macht sich auf den Weg, ihr Betragen gut zu machen. Sie geht zwischen den Tischen zur Bar am Eingang, finster unter der Aufmerksamkeit der übrigen Gäste, und bespricht sich eine Weile mit dem alten Mann an der Kasse. Er ist ganz schwarz gekleidet, er hält sein Gesicht so still, seine Augen bewegen sich selten, und sie wendet sich nicht gern an ihn. Aber er antwortet ihr wie einer Erwachsenen, er fordert die Zuschauer nicht auf zur Belustigung an ihr, und während er ihr mit einer marklosen, gleichgültigen Stimme Bescheid gibt, bietet er ihr das Glas mit den Oliven an.
    – Ich will euch sagen, was es bedeutet, dej Bůh štěstí: sagt Marie am Tisch. Sie sagt es zweimal, erst auf Englisch, damit Mr. Weiszand wieder an ihre Höflichkeit glaubt, dann deutsch, um Gesine zu versöhnen: Gott bringe dir Glück, heißt es.

3. Oktober, 1967 Dienstag
    Emmy Creutz, Friedhofsgärtnersgattin zu Jerichow, schickt ihre Rechnung wie jeden Oktober. Sehr geehrte Frau Cresspahl, das Abdecken Ihrer Grabstätten zum Winter macht je sechs Mark, einschließlich Bukett. Fällig ist außerdem die jährliche Gebühr für Dauerpflege, drei Gräber à 20 Mark.
    Aus Saigon berichtet die New York Times von Bombenangriffen auf Nord-Viet Nam. Bomber vom Typ B 52 haben in sieben Einsätzen in nur drei Tagen 110 sekundäre Explosionen ausgelöst. Bei einem Angriff nordwestlich von Conthien verursachten die Abwürfe 44 sekundäre Explosionen und drei Großfeuer, die die ganze Gegend in Flammen setzten.
    Emmy Creutz fügt ihrer Aufstellung, zur Kontrolle, fotografische Aufnahmen der Gräber bei. Lisbeth Cresspahls Eisenkreuz ist nach wie vor nicht abgeklopft und lackiert. Auf den Findling, den die Stadt Jerichow Cresspahl auf den Schädel gewuchtet hat, haben die Metallbuchstaben Rostflecken lecken lassen. Die Platte mit Jakobs Namen, die auf seinem Hügel liegen sollte, steht abermals davor, wie ein Preisschild. Wo käme Emmy Creutz wohl hin, wenn sie das Aussehen des Friedhofs den Kunden überließe.
    Auf Istrien wurde Erich Rajakowitsch gefangen, von 1941 bis 1943 Leiter der Deportationen im Haag. Die Niederlande suchen ihn wegen der Ermordung von 100 000 Juden (geschätzt).
    Die Bilder der jerichower Gräber zeigen den Zustand vom August, ein Gewimmel trockener Blumenfarben, keine dunklen Töne. Nur über Lisbeth Cresspahl wächst der Efeu, den

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