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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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auch wohl so eine Meinung, daß die britische Politik den eigenen Arbeiter der Sorge um den Außenwert des Pfund Sterling opfere. Sie hörte das nicht gern. Es waren also wirtschaftliche Gesetze und wirkliche Personen, von denen ihre Lage abhing, nicht ein Schicksal. Einem Schicksal hätte sie sich womöglich überantwortet. Sie kam sich gefangen vor. Denn Wohltätigkeit über ein gutmütiges Maß hinaus hätte ihr ins Küchengeld geschnitten, hätte den Traum vom eigenen Haus beschädigt. Sie war also ungerecht, und sie glaubte der Ungerechtigkeit eine göttliche Strafe auf dem Fuß, mochte die auch vorerst irdisch ausfallen. Wie sollten sie beide auf Dauer bestehen in einem Land, in dem die Kirchen und die Plätze ausgehängt und bestellt waren mit Mahnmalen an die Toten im Krieg gegen die Deutschen? Wie lange würde Cresspahl noch arbeiten dürfen in einem Land, in dem die Handwerker inserierten mit der Versicherung NUR BRITISCHES MATERIAL VERWENDET. NUR BRITISCHE ARBEITSKRÄFTE BESCHÄFTIGT , worauf konnten sie hier vertrauen? Und insgeheim dachte sie wieder und wieder: So schlimm ist es in Deutschland nicht. Als sie dem Kapitalismus zum ersten Mal begegnete, hielt sie ihn für etwas Ausländisches.
    Dies vorlaute Wesen, das hat sie von dir, Lisbeth.
    Das hast du von mir, Gesine. Und sieh dich vor, daß nicht dein Kind einst dich entschuldigen will wie du mich.

5. Oktober, 1967 Donnerstag
    Dies ist 1 Stück Phonopost.
    D. E.,
    dies Tonband ist in der Werbung als »rauscharm« gepriesen; vielleicht hörst du im Hintergrund wirklich den gewalttätigen Regenschauer, der uns die Fenster wäscht. Denn wir hatten Indianersommer jede Menge, und es ist vorbei.
    Hier eine Nachricht, über die du trauern wirst: die Kardinäle von St. Louis haben deine Red Sox von Boston Zwei zu Eins geschlagen, in Fenway Park, und es soll nicht eben ein erregendes Spiel gewesen sein. Na?
    Zweitens Marie. Marie besteht darauf, daß ich ihr weiter erzähle wie es gewesen sein mag, als Großmutter den Großvater nahm. Ihre Fragen machen meine Vorstellungen genauer, und ihr Zuhören sieht aufmerksam aus. Sie sitzt am Tisch mit den Händen an den Schläfen, so daß sie das mecklenburger Wappen macht, deinen Ossenkopp. Aber was sie wissen will ist nicht Vergangenheit, nicht einmal ihre. Für sie ist es eine Vorführung von Möglichkeiten, gegen die sie sich gefeit glaubt, und in einem andern Sinn Geschichten. (Gefragt habe ich sie nicht.) So verbringen wir einige Abende.
    Mein Erzählen kommt mir oft vor wie ein Knochenmann, mit Fleisch kann ich ihn nicht behängen, einen Mantel für ihn habe ich gesucht: im Institut zur Pflege Britischen Brauchtums. Es wohnt in der Madison Avenue an der 83. Straße, nicht weit von der prächtigen Todesfesthalle, wo die Leute aus dem Register der Gesellschaft New Yorks verabschiedet werden. Wegen der feinen Nachbarschaft sind dem Institut die Fenster versiegelt und die Fassade geliftet worden, und innen ist es ausgehängt mit rotem Paneel und Gemälden des 18. Jahrhunderts. Die abgeschabten Sessel müssen sie aus einem londoner Club eingeflogen haben, oder sie sind mit Kunst in solch edlen Zustand gebracht. Die Dienerschaft beträgt sich, als sei das Stadtschloß nur wegen Verarmung des Besitzers offen für den Plebs, und weiblicher Plebs wird auf einer Hintertreppe zum Archiv geschleust.
    In diesem Institut haben sie auf Mikrofilm die Richmond and Twickenham Times, von der ersten Nummer von 1873 an bis auf den heutigen Tag. Die Zeitung nennt sich ein »Journal für lokale Nachrichten, Gesellschaft, Kunst und Literatur« und ist entfernte Verwandtschaft der alten Times von London, in der Titelfraktur und in den Familienanzeigen als Aufmacher, aber eben kleinbürgerliche Verwandtschaft, mit reißerischen, fast ordinären Inseraten auf der ersten Seite, jedenfalls im 59. Jahrgang, 1932.
    Dort wird geworben für »Kellogg’s corn flakes«, die selben, die Marie heute zum Frühstück braucht. Wie die Markenartikel uns überleben! Nach jedem Krieg sind sie kräftig wieder da, Junker & Ruh, Siemens, Linde, Du Pont, General Motors. Dies nennst du einen von meinen abgebrochenen Gedanken. Ich meinte aber gar keinen Gedanken, sondern ein Gefühl. Einen Affekt: würdest du sagen.
    In fast jeder Nummer der Richmond and Twickenham Times sitzt vorn, fett in der Mitte, eine Anzeige von Gosling & Sons, Kaufhaus zu Richmond, und nun vermutet ihr, ich hätte Pascals Erben nach denen benannt. Aber ich kann seinen Namen nicht

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