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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahls Tochter: Liebe Gesine, und darunter: dein Erich Creutz. Jetzt steht da: Hochachtungsvoll, Emmy Creutz.
    Dann haben wir noch das Grab von Marie Abs in Hannover, Westdeutschland. Das lebt von automatischen Bank-Überweisungen. Wenn de Sünn von’n Himmel föll, set wi all int Düstern.

4. Oktober, 1967 Mittwoch
    Heute mit dem Sonnenuntergang beginnt das jüdische Neujahrsfest, Rosch Ha-Scha’nah, das bis zum Freitagabend dauern wird. Aus Anlaß des Festes und für seine Dauer hat die Stadt die Verordnung über das wechselnde einseitige Parkverbot aufgehoben. Für die Juden ist es der Anfang des Jahres 5728.
    Rajakowitsch ist sicher nach Österreich entwischt. Die jugoslawische Polizei hatte ihn gewarnt, nicht festgenommen. (Außer dem protestiert Rajakowitsch gegen die Behauptung, er habe sein Vermögen verdient an der Belieferung des kommunistischen Blocks mit strategischen Gütern.)
    Nach der Analyse von Gunnar Myrdal, einem schwedischen Fachmann für gesellschaftliche Krisen, müssen die U. S. A. Billionen Dollar haufenweise und die Anstrengung einer ganzen Generation aufwenden, wenn sie realistisch und ohne Ansehen der Rasse gegen die Armut im Land vorgehen wollen. Marie ist da gar nicht ängstlich, in einem solchen Land.
    Lisbeth Cresspahl war ängstlich in England. Sie hatte Angst vor den Arbeitslosen, die mit dem National Unemployed Workers Movement aus Wales, Nordengland, Schottland nach London marschiert kamen, eine abgerissene Masse Männer, denen auch sie schlechte Ernährung und erbärmliches Wohnen ansah. Sie stand in einer dünnen Reihe Zuschauer am Charing Cross, eine Bürgersfrau in einem neuen Mantel, einen Fuchskragen um den Hals, in Schuhen nach der diesjährigen Mode, und blickte etwas töricht, sehr erschrocken auf den Hungermarsch. Ihr war noch nicht begreiflich, daß die Demonstranten lediglich auf ihre Lage aufmerksam machen wollten, sie traute nicht ihrem geduldigen, friedfertigen Verhalten. Überdies war das N. U. W. M. von der Kommunistischen Partei aufgezogen. Sie hatte einmal etwas auszurichten für Perceval und traf auf die Eltern Ritchett, Leute in Cresspahls Alter, in verwahrloster Kleidung, mit einem fauligen Geruch, die sie fast mit Unhöflichkeit am Betreten des Hauses hindern wollten. Sie hätte sich gern damit begnügt, den Jungen zu bedauern, daß er von der Arbeit zurückkam zu schlampigen Eltern, in eine verschmutzte Wohnung. Sie mochte lange nicht glauben, daß andauerndes Leben ohne Arbeit und Einkommen solche Gleichgültigkeit erzeugte, für die die Ritchetts tatsächlich auch sich geschämt hatten wie für eine private Verfehlung. Dann bekam sie heraus, daß Perceval mit seinem Lohn auch noch aufkam für die Eltern, dazu Geschwister, weil das Arbeitsamt von Richmond an ihrer Bedürftigkeit kleine Zweifel hatte. Jetzt dachte sie sich hinter den kahlen Fenstern in den Arbeiterstraßen mehr solche verreckten Haushalte, und konnte nahezu den Trotz der Unversorgten verstehen, die nur noch auf der Straße und in der Kneipe, mit gelegentlicher Rasur und ramschiger Kaufhauskleidung, einen bürgerlichen Schein wahrten. Mit Almosen traute sie sich nicht zu den Ritchetts; die hatten auch ihr Scham eingejagt.
    Gib dem Jungen mehr Lohn, Cresspahl.
    Von deinem Küchengeld gib ihm, Lisbeth, und laß es die Konkurrenz nicht wissen.
    Als sie noch Papenbrock hieß, war sie sicher gewesen. Für Gerechtigkeit hatte sie nicht einen Begriff mitgebracht, sondern ein Empfinden. Das Empfinden, beraten von der evangelischen Religion, ließ Unterschiede zu, allerdings nicht krasse. Die Armut in Mecklenburg war vor ihr versteckt gewesen: in der Verspätung der mecklenburgischen Seele, im Vertrauen der Familie Papenbrock auf ihr Recht zu bevorzugtem Leben, in regelmäßigen Spenden an die Kirche, in dummen Sprüchen, wie dem von dem Tüchtigen und seinem Lohn, oder dem, daß auf dem Lande noch niemand verhungert sei. Da hatte sie sich nicht in Gefahr geglaubt. Hier glaubte sie sich gefährdet, denn aus Cresspahls Reden hatte sie ungefähr entnommen, daß sie beide am Rande der Krise nur mitschwammen, wegen des Zufalls, daß Adel und Bürgertum noch Geld aufwenden mochten für Ausbesserung und Nachbau der Familienmöbel. Er versuchte ihr auch zu erklären, was ihm aus Versammlungen der Labour Party haften geblieben war: die Verursachung der Arbeitslosigkeit durch rückläufige Ausfuhren Englands in allen wichtigen Produktionszweigen, und daß da ein Mechanismus am Werke sei. Er hatte

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