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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahl. Da war nun Richmond Bridge, Tausende Male in Gemälden festgehalten, sogar durch J. M. W. Turner, ein Gegenstand der Geschichte und der Bildung, hundert Yards Brücke zwischen der Stadt und den fürstlichen Bauten im östlichen Twickenham, spätes achtzehntes Jahrhundert, verspielt umgeben von Sportbooten, Ausflugsschiffen. Lisbeth Cresspahl sah da fünf Bögen aus weißem Stein, ein krummes Pflasterbett darüber, sie war höflich genug, den Anblick auswendig zu wissen; er rührte sie nicht. Gewiß, sie ging fast regelmäßig auf den Park Richmond Hill (immer durch Queen’s Road, nicht über Hill Rise, wegen der ehemaligen Brauerei, in der die Kriegskrüppel die Poppies für ganz England anfertigten), sie stand oft beim Thatched Cottage (das sie »Reetdachhus« nannte) und befaßte sich mit dem vorgeschriebenen Blick auf die Themse hinunter, über straff abfallende Parkwiesen, zwischen vornehm und gefällig arrangierten Baumgruppen auf die buschigen Ufer, die Inselhaine, das Wasser, das im Abendschatten bläulich wurde; sie zählte auch in Briefen auf, was klare Tage an Weitsicht hergaben: das Schloß von Windsor, die Höhen von Berkshire, den Berg von St. Anne, den Schweinerücken und davor die Wolken aus Kastanienblüten über dem Bushey Park mit seinen zahmen Hirschen und Rehen; es tröstete sie nicht. Die Landschaft war verschwenderisch angelegt, ohne Nutzwirtschaft, einschüchternd im Alter ihrer Kultur, abweisend vor Herrschaftlichkeit, fremd. Sie ging dahin eben allein, nicht wegen der Aussicht, sondern um allein zu sein. Ihr war nicht geheuer bei dem Gedanken. daß sie vielleicht nur mit dem Willen hier würde anwachsen können.
    – Ihr war nichts verschwiegen worden.
    – Cresspahl hatte sie vorbereitet. Er hatte sich als eine Art Werkmeister bezeichnet, er war tatsächlich nichts Besseres als das, es paßte nicht für den Vorwurf, nach dem ihr zu Mute war. Er hatte ihr die Gegend am Gaswerk nicht beschrieben als respektabel, und sie hatte sich abgefunden mit dem Gasometer, dessen Rosa jetzt bis zur Mitte in einem schmutzigen Braun überstrichen war und darüber in große Rostdreiecke aufgebrochen war; sie war doch getroffen von dem Hochmut der Richmond and Twickenham Times, die sich darauf verließ, »daß in dieser ärmlichen Umgebung wohl wenige protestieren würden« gegen den widerlichen Anblick. Sie hatte nicht erwarten dürfen, daß die Bürger Richmonds sie in nachbarschaftlichen Verkehr ziehen würden, ihr war nicht wohl dabei, nun tatsächlich allein zu sein, unter der mittleren Schicht, wenig über der unteren, Ausländerin obendrein. Cresspahl hatte ihr vorgeschlagen, kirchliche Veranstaltungen auszunutzen für Bekanntschaften; sie hatte ihn wild angeschrien in ihrer Wut auf sich selbst, daß sie hier in Liturgie und Ritual nicht finden konnte. Nun fand sie grausam von ihm, daß er schon bei dem Wort Kirche aus dem Gespräch ausscherte, ohne Aufhebens und gutmütig, als sei hier nur für sie ein Raum ausgespart, den zu betreten ihm nicht zustand. Sie hatte, um diesen Streit aufzuheben, im Antiquariat Hiscoke in der Hill Street eine King James-Bibel gekauft; Cresspahl hatte den Lederband aufgenommen und schweigend zurückgelegt und nicht angedeutet, ob er verstand, daß sie sich Mühe gab. Manchmal hätte sie ihn anfahren mögen: Du hast alles, was du wolltest! und erschrak vor der eigenen Antwort: Was ich wollte; ihr war nicht geheuer, daß ihr solche Anfälle beikamen. Sie zögerte die Gänge zum Ausländeramt oft um Tage hinaus; sie sah den Beamten nicht gern ihre beiden Pässe aufblättern wie etwas bald Ungültiges. So weit war sie noch nicht. Und Cresspahl sah nichts! Der ging mit ihr im strahlenden Juni auf die königliche Pferde-Schau, stolz und zufrieden mit Lisbeth Papenbrock am Arm, und so sahen sie aus auf dem Foto, das sie nach Deutschland schicken mußte: ein zuversichtliches, ein fröhliches Paar, und nicht wie ihr war. Einmal sah sie Cresspahl durch eine offene Tür an einer Theke stehen, ein Glas in der Hand, behaglich redend mit seinen Nachbarn, so ungestört, als brauchte er sie nicht, so weit entfernt, als werde sie ihn nie erreichen. Sie konnte ihm nicht einmal vorhalten, daß er zuviel Geld in die Kneipe trug. Sie konnte sich nicht beschweren, daß er sie warten ließ auf eine Schwangerschaft (dafür fehlte einer Tochter von Papenbrocks die Sprache), und nachdem sie ihm Kinder versprochen hatte (»vier, Heinrich«), hätte sie vorgezogen, daß es anfing. (Sie

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