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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Häusern ans Licht, dorfähnliche Versammlungen, noch nicht zugeschüttete Vergangenheit, bis auch sie verschwanden hinter der Vortäuschung von Landschaft beiderseits der Expreß-Straße, weichen Rasentüchern über dem Einschnitt, ungekränkten Baumgruppen am Horizont, nutzlos und schön unter dem grau ausgelegten Himmel. Nur in der Nähe der Städte zerfällt das arkadische Bild, an den verrußten und leeren Fabrikstraßen von Bridgeport, vor New Haven, wenn die Aussicht auf den Atlantik zurückgeholt wird in den schwarzen, verseuchten, stinkenden Uferstreifen. Dann wieder war das Land zu nichts benutzt als zur Ausschmückung der Autobahn, allmählich in tiefen Schwüngen ausgebreitet, zu einem Park aus aufsteigenden Wäldern und Wiesen zugerichtet, fast dezent unterbrochen von den technischen Stationen und den Imbißpavillons Howard Johnsons. Unter einem von seinen Dorfkirchtürmen bestellt Marie gegen zehn Uhr ein zweites Frühstück, auch für ihre Mutter, die die New York Times mit hereingenommen hat.
    In Canada ist es, wo der sowjetische Kernphysiker Boris Dotsenko bleiben will, nicht an der Universität Kiew, die ihm Urlaub gegeben hatte. Dort sieht man rein theoretische Forschung nicht gern: sagt er: Und hier ist es demokratischer: sagt er.
    Earl H. Duncan aus Bolivar in Missouri hat Präsident Johnson sein Beileidschreiben zum Tod seines Sohnes in Viet Nam zurückgegeben, als Kritik an seiner Kriegführung. Er macht Johnson verantwortlich »für den unnötigen Tod junger amerikanischer Menschen, nicht zu erwähnen die Tausende Krüppel und Verstümmelte«. James R. Duncan hat der Sohn geheißen.
    Es ist Marie, die jetzt aus der New York Times vorliest, kurz vor der Grenze von Connecticut und Massachusetts, inmitten eines eng aufgefahrenen Pulks von Autos, die nur für wenige Schritte aus dem Stand kommen. Die Rücklichter vor Cresspahls’ Wagen drängen mit nervösem Blinken auf die inneren Fahrbahnen, und voraus im Dunst, in der Nähe des Mittelstreifens, sind die kreisenden bunten Lichter von Funkstreife und Ambulanzen zu ahnen. Unverhofft, über dem verkleinerten und verlangsamten Motorengeräusch, ist es still.
    »Er« liest Marie vor, anfangs mit der Eile eines Nachrichtensprechers, dann immer mehr aufgehalten vom Verstehen der Worte: »lag auf seinem Rücken auf dem Bürgersteig, mit geschlossenen Augen, von sich gestreckten Beinen, verfilztem Haar, zernarbtem Gesicht. Das einzige Lebenszeichen war das Blut, das aus der Schramme auf seiner Stirn niederrieselte, und seine Lippen, die sich alle fünf oder sechs Sekunden beim Ausatmen aufwölbten.«
     
    – Es ist richtig beschrieben: setzt sie hinzu: Solche hab ich selbst gesehen, da auf der Bowery. In Lumpen, nackt in den Schuhen. Das sind die, wenn sie Geld fürs Trinken brauchen, halten sie die Autos an und putzen ihnen die Windschutzscheiben mit schmierigen Lappen und geben den Weg erst frei für mindestens zehn Cent. Mindestens. Du willst mich fragen, was ich auf der Bowery zu suchen habe, da unter allen Straßen von New York.
    – Du hast dich verlaufen, nicht wahr?
    – Gib zu, daß du ein Hackbrett bekamst zum Geburtstag. In jenem Geschäft auf der Bowery waren sie am billigsten.
    – Danke für die Adresse, Mary Cooper.
     
    Marie ist es, die hinter Springfield, Mass., den Weg findet auf den kleinen Landstraßen, durch das Gebiet der polnischen Tabakfarmer, eine niedrig bebaute, in weiten Abständen besiedelte Gegend, vorbei am Geburtsort Emily Dickinsons, dann oberhalb des Flusses Connecticut, meist in Sichtweite des breit liegenden Wassers, eingeschlafen zwischen hohen Tannenufern. In der südöstlichen Ecke Vermonts, zwischen Massachusetts und New Hampshire, in den Ausläufern eines fast ganz hölzernen Dorfes, in einem näßlichen Obstgarten, findet sie das weiße Schindelhaus der Gastgeber, betagt und friedlich neben einer karminroten Bauernscheune, die die früheren Generationen noch mit dem Blut geschlachteter Tiere gestrichen haben. Das glaubt Marie nicht gern.
    Dann platzt die Tür des Küchenanbaus auf unter einem Rudel kleiner Kinder, fröhlich und verdreckt, die auf Marie zustürmen. Sie steht etwas steifbeinig zwischen ihnen, auf die Würde ihres Alters bedacht, ein Besuch aus der Stadt New York. Hat sie sich das von dieser Reise gewünscht?

8. Oktober, 1967 Sonntag
    – Woher kennst du diese Fleurys: sagt das Kind, nicht gleich beim Abfahren, erst sechzig Meilen später, nach bedenklichem Schweigen, nicht vorwurfsvoll. Im

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