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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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hatte Angst vor den Schmerzen bei der Geburt.) Da waren viele kleine Klagen, die sie mit Verstand und Gerechtigkeit nicht aussprechen konnte, und sie war ratlos genug, einige davon aufzuschreiben, um sie zu einer späteren Zeit anzusehen, womöglich zu begreifen. Bei einem Sturm im August (12., Freitagmorgen) mit gefährlichen Blitzschlägen und tropischem Regen wurde sie den Gedanken an das Sterben nicht los und erschrak vor dem Gedanken, daß Cresspahl das versteckte Schulheft nach ihrem Tode finden könnte, und tat es heimlich in den Späneofen in der Werkstatt. Sie faßte immer neue Vorsätze, und immer von neuem geriet sie in Streit mit Cresspahl, fand nicht heraus, wandte sich wortlos ab und blieb für Tage gefangen in einem Schweigen, das sie vor den Arbeitern mit krampfiger Gesprächigkeit verdeckte. Aber allein mit Cresspahl und der Katze hätte sie nicht einmal die Katze harmlos anreden können. Cresspahl konnte das auch, wortlos und blicklos neben ihr leben, nachdem Zureden mehrmals an ihr vorbeigegangen war, und was sie in solchen Auseinandersetzungen zusammenhielt, waren die eingeführten Zeiten für die Mahlzeiten, die Zeit für das Aufstehen und nur eine heikle, quecksilbrige Zeit für die Versöhnung, und nicht ein Wort vorher, auf die norddeutsche Art.
    – Das ist die norddeutsche Art? sagt das Kind. - Das habe ich nicht geerbt: sagt Marie, überzeugt und erlöst.
     
    13 643 amerikanische Kriegstote bis heute in Viet Nam. Kann es sein, daß sie den 200 Millionen Bürgern der U. S. A. noch nicht ausreichen im Verhältnis der Zahlen?

7. Oktober, 1967 Sonnabend
    Es war Marie, die in der Garage der Leihfirma den Wagen aussuchte, mit dem die Cresspahls an diesem Morgen Manhattan verlassen; ein als Sportkarre verkleidetes Tourenauto, benannt nach den zähen Pferden spanischer Abstammung auf den Ebenen Amerikas, das sich lange die Füße vertreten muß in den Stauungen und den Baustellen des Cross Bronx Expressway, bis es auf dem Fahrbahnmischer über dem Friedhof des Hl. Raymond den Finger des Bruckner Expressway gewinnt und davontrabt nach Norden, zum New England Thruway. Es war Marie, nach deren Wunsch die Cresspahls auf der West End Avenue langsam, fast zur Schau gefahren sind, damit ihre Spielgefährten sie auch einmal als ein Kind mit einem Auto erkennen sollten; im Grunde war es Marie, die dies Wochenende für einen Besuch in Vermont bestimmte. Sie weiß es nicht, sie hat alle ihre Absichten gegen einen Anschein von Widerstand bei Gesine durchsetzen müssen.
    Wenn ich mir einen weißen Fuß bei dir machte, hast du es doch nicht gemerkt, Gesine.
    Dir war es recht, wenn ich dich für streng hielt, Cresspahl. Dir war das bequem.
    Und Marie beobachtet befriedigt die Anlagen der Eisenbahn New York Central neben der Bundesautobahn 95, die Bahnhöfe New Rochelle, Larchmont, Mamaroneck, wo andere Leute in den Ausflug fahren; sie geht nicht ein auf die Blicke der Leute in den Greyhoundbussen, die wie die Schlachtschiffe an dem niedrigen gelben Wagen vorbeiziehen; aber sie gibt sich zu geschäftsmäßig beim Lesen der Streckenkarte, wenn sie Gesine die Münzen für die Straßenbenutzungsgebühr an den Kassierschranken aushändigt, wenn sie die Nase rümpft über die beiden jungen Herren in dem Oldsmobile, die den Cresspahlschen Wagen zum zweiten Mal aus Spaß überholen: das Kind spielt. Sie spielt Autofahren.
     
    – Wenn diese Lisbeth Cresspahl, deine Mutter: sagt sie. Sie starrt geradeaus auf die vier Fahrbahnen, unfreundlich vor Grübelei.
    – Deine Großmutter: sagt Gesine. Aber darauf geht das Kind nicht ein.
    – Wenn sie ihr Beschwerdebuch gegen Cresspahl verbrannt hat. Woher weißt du davon?
    – Sie hat ein neues angefangen. Es liegt zuhause im Schließfach.
    – In New York? Im Hanover Trust?
    – In Düsseldorf.
    – Kannst du so etwas nicht für mich machen? sagt das Kind, aus Angst vor einem Mißerfolg überhastet: Nicht Beschwerden. Was du jetzt gedacht hast, was ich erst später verstehe. Auch Beschwerden.
    – Auf Papier, mit Datum und Wetter?
    – Auf Tonband, wie Phonopost.
    – Für wenn ich tot bin?
    – Ja. Für wenn du tot bist.
     
    Es ist nicht mehr das selbe Land. Der Harlemfluß unter der George Washington-Brücke war eingefaßt von Schmutz, Abfall, Schrott und Industrie; auch noch die nördlichen Bezirke von New York Stadt lagen wüst, Schutt zwischen verfallenden Buden unter den eleganten, angehobenen Schnellstraßen; endlich kamen alte Gärten mit überlebenden alten

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