Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Jüdin an und klagte über den Verfall der Gegend (früher sei es so vornehm und jüdisch gewesen); sie war durcheinander, als habe sie schon lange ohne einen Spiegel gelebt. Vier bis fünf Schritte auf dem unebenen Zement des jenseitigen Bürgersteiges, das ist nun ihre Stelle. - Alles haben sie kaputtgeschlagen: klagte sie, ein Winziges schwankend auf ihren steifen Beinen. Vielleicht meinte sie, es seien diese Miethäuser am westlichen Ende der 97. Straße gebaut worden als respektable Adressen, für altbürgerliche Familien wie womöglich die ihre, die eine Zahlungsfähigkeit auch noch mit Erkern und steinernem Zierat zu den gelben Ziegeln der Fassade anzeigen wollten. Ihr waren nicht nur die offenen Mülleimer neben den stattlichen Portalen zuwider, auch das Dröhnen überdrehter Plattenmusik aus den oberen Stockwerken, das uns jedes Mal entgegenkommt wie etwas Erwartetes. Wir kennen diese Lieder von einem karibischen Himmel schon aus dem Taschenradio, das Esmeralda in ihrem Fahrstuhl auf und abwärts durch unser Haus führt; uns macht die Musik nichts kaputt. Es ist wahr, die Jugendlichen auf den Vortreppen nahe der West End Avenue lassen uns durch ihr Blickfeld ziehen, als wären wir nicht vor ihren Augen; auch Marie wendet sich nur verstohlen zu ihnen, um das Spanisch von den Lippen zu lesen, das sie im Hören doch nicht heil erfaßt. Nein, diese kräftigen jungen Herren, die müßig im Türrahmen lehnen, haben über uns nicht Wut noch Neid geäußert. In den Kinderschlachten in Jerichow, in unserer Kinderangst, wir haben doch auf Rettung durch Eltern vertrauen dürfen.
Und in einem von diesen Hotels willst du wohnen, wenn du hinten nicht mehr hoch kannst.
Sieh dir doch das Kind an, Cresspahl. Sie hat mir jetzt schon ein Haus auf Staten Island versprochen für mein Alter.
Diese Hotels, wenn sie Telefondienst rund um die Uhr versprechen, sie rechnen dann mit deinem Ruf um Hilfe.
Gib doch nicht so an, Cresspahl. Bloß weil ihr das Sterben schon hinter euch habt. Dazu werde ich eure Hilfe nicht brauchen.
Auf dem Schild des Hartcourt Arms hängt schon seit Jahren die Tafel mit der Aufschrift »Nichts frei«, und eine dieser Unterkünfte ist ganz und gar in neuem Rosa gestrichen; so gehen die Geschäfte. Dann, hinter den bekotzten Stufen des Kinos Riviera, beginnt unser Broadway. Der Broadway ist der Marktplatz, die Hauptstraße unseres Viertels. Zu Einkäufen müssen wir es kaum verlassen, und stünde uns auch der Sinn nach japanischem Bier, Kamtschatkakrebsen, irischem Honig, düsseldorfer Senf oder dresdner Stollen. Hier gibt es chinesische Restaurants, in denen auch Chinesen essen, israelische Gaststätten und Bodegas und ein Etablissement Zum Maharadscha, italienische Eissalons und Pizzerias; hier hängen die Zeitungen der osteuropäischen Emigranten neben dem Nachrichtenmagazin und der Regenbogenpresse Westdeutschlands. Hier, beim Schuster, beim Blumenkaufen, in den kleinen Feinkostläden, bei Schustek werden wir gefragt nach unserer Gesundheit, nach unseren Ferien, nach der Schule, und auch wir benutzen dies Schmiermittel der Warengesellschaft und äußern Bewunderung für Schusteks geschickte Hackschläge zwischen die Schweinerippen oder klagen über das Wetter. Bei Schustek sind wir angesehene Kunden, er würde uns Wochen lang ohne Bargeld beliefern. Mr. Schustek kann noch etwas von dem westfälischen Deutsch, und seine beiden puertorikanischen Gehilfen verstehen und sprechen genug Jiddisch für die Kunden dieses Ladens. Ihm macht der Sabbat nicht Furcht, und hier kauft nicht Mrs. Ferwalter. Auf diesen Bürgersteigen kennen wir die Bewohner des Viertels aus den Besuchern heraus und werden von ihnen gegrüßt mit dem stumpfen, zurückgenommenen Blick, der eben noch die Wahrnehmung verrät. Zu dem Mann, der am Zeitungsstand die Nachmittagsschicht arbeitet, sprechen wir nur, wenn er anfängt. Denn im vorigen Winter, dick verpackt und mit den Füßen stampfend gegen die Kälte, hat er uns das Wetter mit einem Januar in Berlin verglichen, und wir haben gesagt: Wir waren auch mal in Berlin. Darauf zog er eine Taschenflasche hervor und beobachtete uns schweigend aus gleichmütigen, nicht verengerten Augen, während er den Schnaps einnahm, bis wir endlich abzogen. Wir hatten ihm seine Lage in Berlin zu genau ins Gedächtnis gerufen. Von dem alten Herrn, der uns durchs Fenster der Cafeteria zunickt, wissen wir nur, daß er uns regelmäßig anruft mit: Na, Liebling! Er ist sehr sorgfältig gekleidet in seine
Weitere Kostenlose Bücher