Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
sehen?
Cresspahl schickte an Peter Wulff in Jerichow/M. einen Ausschnitt aus dem News Chronicle von der ersten Januarwoche, weil es darin hieß, Deutschland werde ein glückliches Jahr erleben, wenn die Vorzeichen nicht täuschen. Die erwartete wirtschaftliche Erholung Deutschlands werde der roten Drohung ein Ende setzen. So etwas schickten sie einander als Anspielung, als Anfrage, als Neckerei. Beide glaubten nicht an eine Besserung. Dem Gneezer Tageblatt glaubte Peter Wulff die amtlichen Bekanntmachungen, und die Lokalnachrichten zur Hälfte.
– Wenn überhaupt, nicht in Mecklenburg: schrieb er zurück.
– Die Regierung in Schwerin hält ihre Leistungen bis Monatsende zurück, zu Gunsten ihrer eigenen Terminzahlungen an Zinsen und Gehältern. Jetzt hat ein Rechtsanwalt aus Rostock ein Konkursverfahren gegen das Land beantragt, gut der Mann. Du bleib man wo du bist, womit ich nichts für das englische Bier gesagt haben will. Herzlich, Gruß, Wulff.
– Was fanden die beiden aneinander?
– Vielleicht konnten sie auskommen wegen ihres ähnlichen Alters. Sie waren beide Mittelstand, beide waren für ein paar Jahre Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei gewesen. Vor allem, sie konnten einer des anderen Nähe ertragen, bei einander sitzen, auch ohne Gespräch. Das sah nur aus wie Intimität. Und beide hatten Spaß am gegenseitigen Aufziehen, und konnten es ertragen. Cresspahl hatte sein schweigendes Vergnügen gehabt, wenn Meta Wulff ihrem Mann vor Wohlwollen und Billigung den Rücken rieb, und der hatte vor Cresspahls Augen den Kopf etwas gequält verkanten müssen. Cresspahl hatte Meta Wulff reden lassen müssen über Ehen mit sehr großem Unterschied im Alter, und Peter Wulff hatte ihn offenbar gleichmütig beobachtet, mit Genuß an seinem wehrlosen Zustand.
– Ist das wieder norddeutsch?
– Es ist mecklenburgisch, und du hast es geerbt.
– Wenn es praktisch ist, bin ich einverstanden.
– Und sie waren beide an der Westfront gewesen.
Die Westfront kam vor in Ausschnitten aus dem Daily Express, die Cresspahl an die Gastwirtschaft und Kaufhandlung Wulff schickte, zusammen mit einem Blatt, auf dem Lisbeth Cresspahl die angestrichenen Stellen übersetzt hatte. Da war in Deutschland eben der ehemalige Soldat August Jäger wegen »Kriegsverrats« verurteilt worden. Er war im April 1915 bei Langemarck von einer französischen Patrouille gefangengenommen worden und hatte den Plan eines deutschen Gasangriffs angegeben, nicht nur das Datum, auch die Aufstellungsorte der Gaszylinder und ihre Zahl. Am 14. April kam der englische Verbindungsoffizier bei den zwei französischen Divisionen zum Stab der Zweiten englischen Armee und meldete dem Hauptquartier, daß die ganze Front des 26. Korps entlang, von Langemarck bis zur Höhe 60 Gaszylinder lagen, je zwanzig auf vierzig Meter, unmittelbar hinter den deutschen Linien, in bombensicheren Betonbunkern. General Plummer schickte lediglich ein Geschwader Aufklärungsflugzeuge über die deutschen Stellungen, die auf die Tarnung der Gasbunker hereinfielen, und glaubte so eigensinnig an eine absichtliche Irreführung, daß er auch die Meldung ans War Office unterließ. Am 22. April kam das Gas und brachte Briten und Franzosen zu Tausenden um. Jetzt verlangte der Daily Express ein Gerichtsverfahren für die verantwortlichen Militärs der alliierten Seite, entsprechend dem für August Jäger in Deutschland. Riesenschlagzeilen.
Dazu brauchte Cresspahl keine Zusätze zu schreiben. Beide erinnerten sich daran. Cresspahl hatte einen ganzen Schulhof voll blauschwarzer Toter gesehen. Sie waren einig genug miteinander.
Generäle vor Gericht, wo gibts denn so was.
Dieser Jäger, vielleicht hatte er was gegen Gas.
Studenten von Langemarck. Verblödete Hammel.
Deutschlandlied singen unter Trommelfeuer.
In einem Loch haben die gesessen.
Aus Angst haben die gesungen, aus gewöhnlicher Scheißangst.
Helden von Langemarck.
Du kannst mich mal mit Langemarck.
Und bei der jerichower Feier zum Tag der Reichsgründung mußte Bürgermeister Erdamer eine Pause in seine Festrede machen und dann mit großem Räuspern sich befassen mit einem Gerücht, das in der Stadt und auf den Gütern die Runde mache, zu dem ihm die Worte fehlen und dem er auch im Namen der Vereinigung Stahlhelm ein entschiedenes Halt zurufen müsse, auch im Namen der heldenhaften Studenten von Langemarck. Er regte sich sehr auf dabei, er war gekränkt über die Verletzung seiner Lesebuchgeschichte, und
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