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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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verjährten Sachen, und im Jackenspalt ist zu sehen, daß ihm der Hosenbund bis dicht unter die Brustwarzen reicht. Sein Blick über die erhobene Tasse weg ist ganz leer gewesen, von einer anderen Ansicht gefüllt. So konnte Cresspahl nach dem Krieg dasitzen, anwesend und weit weggetreten in eine Zeit, die es nur noch im Gedanken gab. Jetzt kommt der Bettler mit den blauschwarzen Haaren über die 96. Straße auf uns zu, und wir verdrücken uns in das »Gute EßGeschäft«, wo wir angesprochen werden als unentbehrliche, zu lange schon entbehrte Nachbarn. Das heißen die ostdeutschen Kinder aus meiner Klasse den Kapitalismus perpetuieren. Sollen wir sagen: Charlie, du willst nur unser Geld? Charlie wird sagen: Du willst eins von meinen Dreidecker-Sandwiches, so wie nur ich sie machen kann, und zwar für dein Geld, Gesine. Stimmts? Siehste, und dein Kind will Toast mit Ahornsirup, wie gehabt. Ja, jetzt sind es schon siebzehn Monate, seit das Haus da gegenüber abgebrannt ist. Ne Ruine, an so einer Kreuzung! Ich kann ja brauchen, daß die Cafeteria da drüben außer Gefecht ist. Wird sie wohl noch bleiben. Denn die bauen so bald nicht auf, wegen der Versicherungsgesellschaften. Die trauen sich nicht ran, denen ist unsere Gegend zu unsicher.

15. Oktober, 1967 Sonntag
    All the news verspricht die Schrift an der Fabrik der New York Times auf der Westseite, auf die man auf der Schnellstraße am Fluß in nördlicher Richtung zufährt. Sämtliche Nachrichten verspricht sie, und erst allmählich rückte die Einschränkung ins Sichtfeld der Windschutzscheibe: That’s Fit to Print. Es ist kaum zu übersetzen, nicht einmal ins Amerikanische, wie denn Nachrichten beschaffen sein müssen, damit die New York Times sie druckt: geeignet, schicklich, tauglich oder was sonst. Lange hat die Zeitung sich gedrückt um die Aufschlüsselung ihres Rezepts, und heute gibt sie einen Hinweis mit der Überschrift eines Berichtes über eine andere Zeitung, den kommunistischen Worker mit nur zwei Ausgaben in der Woche und nicht mehr als 14 218 zahlenden Beziehern. All the News That Fits the Line: sagt die New York Times der anderen nach, nur die mit der Parteilinie verträglichen Meldungen, und in unversehrtem Selbstbewußtsein tritt sie selber auf mit ihrem weniger genauen Versprechen am Kopf.
    In einer Bar in der Lafayette Street in Newark wurden heute morgen der Besitzer und zwei Brüder, alle in ihren Dreißigen, tot aufgefunden, alle von nahem erschossen. Offenbar haben sie vorher mit ihren Mördern getrunken. Es könnte um die Verteilung der Gewinne aus einem wilden Streik im Hafen von Newark gegangen sein.
    Ein fünfundsechzigjähriger Mann, dem der Hals von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt war, lag in einem schlecht vorbereiteten Wohnungsbrand in Forest Hills, Queens. Die Arme waren ihm mit Draht auf den Rücken gebunden.
    Westdeutsche Studenten haben öffentlich Zeitungen verbrannt, um ihre politische Meinung auszudrücken.
    Heinrich Schneider, 53 Jahre, angeklagt der Verbrennung von 800 polnischen Juden in einer bialystoker Synagoge im Jahr 1941, hat sich vorgestern nacht in seiner Gefängniszelle in Wuppertal erhängt.
    Maries Schulaufgabe heißt »Ich sehe aus dem Fenster«. Sie sitzt schon den halben Vormittag am Fenster vor der Maschine, auf der sie den Aufsatz ins Unreine schreibt. Im Nachdenken, wenn ihr die Hände auf die Knie rutschen, wird ihr der Rücken immer krummer, und seitlich gelegten Kopfes sieht sie so streng in den Riverside Park, daß sie einen Blick nicht fühlt, einen Schritt nicht hört. Vielleicht versucht sie sich an dem Spielplatz, der mittlerweile in deutlichen Umrissen zwischen den kahlen Platanen hervortritt. Der Spielplatz gegenüber unserem Haus, außen umstanden und innen bewacht von den alten hochkronigen Bäumen, ist eine weitläufige Anlage in mehreren Ebenen, die nördlich beginnt mit einem langen Feld aus Rutschbahnen, Wippwapps, Sandkästen, eingezäunten Schaukelgruppen, eingefaßt von grünen, oft angebrochenen Bänken. Es geht über in eine hoch ummauerte Arena, deren Innenfeld mit Stahlstangen eingefriedet ist, und von hier aus führen Treppen nach oben in eine Gegend mit Bankreihen, Gartentischen und einem Schlößchen von einem Wärterhaus, auf das wiederum Stufen führen, zur höchsten Ebene, wo der Park etwa vier Meter höher liegt als am südlichen Ende des Spielplatzes. Sie könnte beschreiben: daß die Tische bald nach innen geräumt werden. Sie könnte beschreiben: daß die dralle Aufseherin,

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