Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
die mit dem rotbäckigen, bäuerlichen Gesicht, hier seit Wochen nicht mehr Dienst tut und jetzt anderswo mit ihren geschickten Kurzfingern, mit eben dem selben singenden Irisch, Kindernasen putzt und Verbände anlegt. Marie könnte beschreiben: wie die Farben gestuft sind unter dem klaren Himmel, die blaue Treppe des Steilufers von New Jersey zwischen der weicheren Farbe der Vegetation und dem schärferen Flußgrau, alles übersprenkelt mit den sandfarbenen Geästen und spärlichen Laubflecken auf der oberen Promenade, dazu am unteren Rand des Anblicks die giftigen Autolacke neben dem feierlichen Düster des verschatteten Parkzauns. Sie könnte beschreiben: daß jetzt Rebecca Ferwalter unter dem Fenster zu hören ist mit einem gequetschten Schrei, in dem ein Name nur zu erraten ist. Aber Marie verabredet sich mit der Freundin auf den späten Nachmittag und klappert ganz ungestört noch lange weiter auf den Tasten der Maschine, ehe sie das letzte Blatt herauszieht und Gesine das Konzept neben die Zeitung legt, nicht drängend, eher unaufmerksam, als baute sie das Gesehene in Gedanken weiter aus.
»Ich sehe aus dem Fenster. Das Fenster ist die große Scheibe des Guten EßGeschäfts an der 96. Straße und Broadway nach Süden. Die Zeit ist ein Abend im späten Mai des vorigen Jahres. Das Haus gegenüber brennt. Es ist ein Haus aus zwei Stockwerken, mit Cafeteria, Drug Store, Büros. Der Rauch war nicht in Klumpen, sondern kam aus den leeren Fenstern wie Atem oder Nebel, so weiß. Auf den Bürgersteigen drängten Zuschauer, meist farbige Personen, aber behutsam. Sie gönnten einander den Anblick. Denen vor dem Fenster konnte ich über die Schulter sehen. Sie murmelten lauter, wenn die Wasserstrahlen im ersten Stock Flammen ans Licht holten. Das Feuer versteckte sich im Fußboden, bis es sich wieder mit Qualm verriet. Die Wasserfinger, dick wie ein Mannesarm, wurden vom Pumpwagen ganz unten hochgehoben, stachen auch von einer Hebebühne und mechanischen Leitern von oben in das Haus. Auf der Kreuzung war eine Versammlung von Fahrzeugen. Es waren die roten Wagen der Feuerwehr, die privaten und städtischen Ambulanzen, die weißgrünen Funkwagen der Polizei. In der Mitte der südlichen Fahrbahn standen ganz allein zwei Männer ohne Uniform. Sie taten als ob das Feuer ihnen gehörte. Die Leute auf den Hockern neben mir hielten die kauenden Köpfe hoch. Sie brachten es nicht immer zuwege, die Ellenbogen aufzustützen. Manchmal wackelte einer, wenn er angestoßen wurde von den Polizisten, die sich nach hinten zu den Telefonen durchzwängten. Auf der anderen Seite des Fensters wusch das Wasser die Fassade und hackte das Holz von Jalousien locker. Hoch über dem Dach die vier großen Reklametafeln standen immer noch unter Licht. Dies war das erste Mal, daß ich sie erblickte. Die Fahrbahn sah trocken aus, obwohl die Hydranten keiner dicht an den Schlauchkopf schlossen. Einen Block von der Kreuzung entfernt sah sie aus wie dampfend. Dort standen Polizisten mit Taschenlampen und wiesen die Autos zur Seite, die keine Ahnung hatten. Alle Nebenstraßen waren zugepackt mit nervösen Scheinwerfern. Meine Mutter sagt, so ist es im Krieg.«
– Das habe ich nicht gesagt.
– You did too.
– Nein. Am Morgen: habe ich gesagt: als das Haus umstellt war mit den gelben Planken der Polizei und die Feuerwehrleute das verkohlte Holz und den wässerigen Schutt beobachteten, als die Luft wieder trocken war: habe ich gesagt: roch es nach Krieg.
– Von Riechen dürfen wir nichts schreiben.
– Kannst du schreiben: So ähnlich sieht es aus?
Marie schnieft unzufrieden durch die Nase, während sie ihren Schluß ändert. Morgen wird Schwester Magdalena sie fragen, ob sie an Viet Nam gedacht hat. Und so wird es ein Thema auf der nächsten Elternversammlung werden. Sie erziehen Ihr Kind nicht richtig, Mrs. Cresspahl.
16. Oktober, 1967 Montag
Nicht nur die Eltern der Linda Fitzpatrick vermögen nicht zu begreifen, wieso ihr Kind sich mit dem Angebot von L. S. D. in einen Keller im East Village locken und totschlagen ließ; es läßt auch der New York Times keine Ruhe. Auf der ersten Seite, zusammen mit dem 701. über Viet Nam abgeschossenen Flugzeug, neben der Angst des Vizepräsidenten vor der Chinesischen Drohung, druckt die Zeitung ein privates Foto, das die Tote am Steuer eines gediegenen Segelbootes zeigt, und vergleicht weiterhin (über mehr als eine ganze Seite) die Darstellung der Familie mit den Aussagen, die ihre
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