Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
ihn behandelte wie einen von vielen Unerwachsenen, die sich aus bloßem Mutwillen in lästige Umstände bringen. Es war zu merken, daß sie in solchen Besuchen geübt war. Sie sprach nur Platt. Sie zwang ihn zum Verzehren einer Scholle, in sehr wenig Butter gebraten. Dann wollte sie ihn nicht gehen lassen, beschwor ihn in geradezu sanften Tönen, als hätte sie sich vorher nicht streitsüchtig gegeben. Sie erinnerte ihn an seine Mutter, ihm kam Lachen bei. Draußen fielen ihm Betrunkene auf, weil sie so lustlos und ohne Vorfreude herumstanden. Auf der Johannisstraße drückte ein Gedränge ihn dicht an eine Schlägerei, die eben anfing mit lockeren Püffen zwischen drei Männern. Die traten nach jedem Zusammenprall noch einen halben Schritt weiter, nahmen die Schultern hoch zurück wie angeberische Kinder, bis einer einen Schlag mit der Hand auf seinem Oberarm festhielt und mit der anderen Hand dem Angreifer unters Kinn hieb. Denen ging es noch einmal um den Aufzug des Reichsbanners vor zwei Wochen, dem die S. A. die Straße gesperrt hatte, mit der Begründung, es sei da geschossen, auch eine Beleidigung des Reichskanzlers Hitler gerufen worden; die beiden Toten waren aber als Angehörige des Reichsbanners identifiziert. (Und gestern abend war angeblich ein Fackelzug der Nazis von den Dächern herunter beschossen worden.) Der Polizist vor der Reichsbank sah strikte nach Norden, auch das Gehör drehte ihm nicht den Kopf herum; offenbar war er beschäftigt mit dem erneuerten Verbot, Zweige und Weidenkätzchen aus Versehen oder vorsätzlich abzureißen. Gegen Abend kam Cresspahl am Schüsselbuden vorbei, und als er an der Nummer 17 das Konsulatsschild Seiner Großbritannischen Majestät Georgs des Fünften wahrnahm, hatte er die Empfindung von zwei verschiedenen Wirklichkeiten, und wäre lieber nur in einer gewesen. An den Salzspeichern war er auf dem Weg zum Bahnhof, da fing Erwin Plath ihn ab. Er hielt sich nun recht gerade, wie ein Spaziergänger mit viel Selbstachtung, und sprach laut über einen Sonntagsausflug, den er nach Ratzeburg vorhatte, mit dem Motorboot auf der Wakenitz. Er konnte es aber nicht lassen, sich umzusehen, und er wartete immer noch. Es war jemand, der gegen Mittag zu Hause nach ihm gefragt hatte. Dahin wollte Cresspahl nicht mitgehen, aber auf dem Bahnhof fand er keinen Zug nach Gneez mehr, geschweige denn nach Jerichow, und als er abermals an Erwins Tür klopfte, wurde er festgenommen, fix aus dem dunklen Hausflur heraus, und auf die Polizei gefahren in dem selben Personenwagen, der ihm gleich als zu vornehm für eine solche Straße erschienen war. Die Beamten waren bereit, ihm für sein Geld Essen in die Zelle bringen zu lassen, so viel hatten die britischen Beilagen in seinem Paß bewirkt, aber sie wußten sonst nichts anzufangen mit dem langsamen Patron, der nur einen Zug in Lübeck überschlagen haben wollte und auf dem Hocker so steif und zusammengezogen saß, als fürchte er seinen schwarzen Tuchmantel an den Wänden zu beschmutzen. Damals hielt die lübecker Polizei noch auf Sauberkeit, und verdachte ihm beleidigende Absicht. Also holten sie ihn erst frühmorgens zum Verhör, und immer noch nicht wollte er sich retten mit dem geschäftlichen Ansehen seines Schwiegervaters in Lübeck. Er war sicher, hier hülfe nur noch Dummtuerei. Er bestand auf einer Gegenüberstellung mit seinem Freund Erwin Plath, denn den habe er besuchen wollen, und nun sei ihm die Zeit knapp, und er wolle noch was davon haben. Endlich stellten sie ihm Erwin in die andere Ecke des Bürozimmers. Erwin sah um die Schultern etwas abgestoßen aus, aber nun war er offen vergnügt, swinplietsch auf mecklenburgisch, als sei das Warten endlich vorüber und das Eingetroffene weniger ärgerlich als die Ahnung davon. Der Kommissar, blitzend vor ausgeschlafener Laune, legte ein langes Verhör an und wollte es gleich listig beginnen mit der Frage: woher die Herren einander denn kennten, bei solcher Freundschaft. Und Cresspahl deutete Haltung an und zog den entgeisterten Vernehmer vom Drehstuhl mit dem schmetternden Ausruf: Holsteinisches Artillerie-Regiment 24 zu Güstrow, 2. Batterie! Nach der ersten Silbe sprach Erwin mit ihm gleichzeitig, und an der richtigen Stelle ließ Cresspahl ihm Luft zum Nachklappen: 5. Batterie! sagte Erwin.
Als sie beim Frühstück in Gerda Plaths Küche saßen, hatte Erwin mit dem Warten wieder angefangen. - Wer mag das wohl gewesen sein, gestern mittag, von dem du mir Nachricht zum Hindenburghaus
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