Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Kapitänleutnant, mit einem Gefolge von S. A.? Erwin wollte ihn nicht wahrnehmen, als er sich einreihte und die angemessen benommene Miene annahm, und bis zum Alten Friedhof trotteten sie stumm nebeneinander her, die reinen Leidtragenden. Erst als der Zug auf die Mittelallee eingeschwenkt war, schwankte Erwin in einen Seitenpfad, das Taschentuch im Gesicht, etwas Unsichtbares wegwinkend, so daß er Niemandem groß auffiel. Später fand Cresspahl ihn am äußersten Rand des Grabfeldes, hinter der Wand eines Mausoleums, unruhig, Schulterblicken verfallen, flüsternd, nicht vergnügt, nicht der Spaßmacher, den Cresspahl seit so zwanzig Jahren kannte. Erwin wartete auf jemanden. Cresspahl war es nicht. Im Grunde wartete er auf die Polizei, nur hätte er vorher gern noch jemand Anderen getroffen.
Es war also Cresspahl, der mit Erwins Briefumschlägen vom Friedhof zurückfuhr, auf der hinteren Plattform der Straßenbahn 2 die Israelsdorfer Allee hinunter über den Klingenberg bis zur Kronsforder Allee. Die Adresse war in einer Straße mit Bürgerhäusern, elegantem Putz zwischen Fachwerk oder ausgesuchtem Jugendstil in Ziegeln. Hinter diesen stillen Gardinen war nichts entsetzlicher als daß Marlene Dietrich in Hosen aufgetreten war, nichts dringlicher als den Tonfilm F. P. 1 antwortet nicht noch einmal zu sehen, nichts mehr geraten als die schwarzweißrote Fahne auf den Mast zu ziehen, eine gefühlvolle Bereitschaft zum Staatsgenehmen, die den möglichen Fehler wenigstens gegen die Willigkeit des Versuchs verrechnet wissen wollte. In einem solchen Haus, in einem von Samt und Mahagoni verdunkelten Zimmer, konnte Cresspahl die beiden Pässe abliefern, denn Papiere fürs Ausland waren es. Die Leute um den polierten Familieneßtisch schienen ihm Schule zu spielen, in einer ungeduldigen, hastigen Art, als wüßten sie allerdings Eiligeres. Es war die Frage, ob die Kommunisten den Reichstag angesteckt hatten, oder Hitlers Sturmabteilungen. Es war weiterhin die Frage, ob die Sozialdemokratie nunmehr eine Hilfe für die Kommunisten mit ihrer Würde vereinbaren könne. Denn die mecklenburgischen Landtagsabgeordneten der K. P. D., Warnke, Schröder, Quandt, Schuldt, waren auf der Flucht, und es stand zu befürchten, daß demnächst Ernst Thälmann an der Tür klingelte. Es gab Berichte, nach denen Thälmann nach Dänemark unterwegs war. Jedoch hatten die Kommunisten mit den Nazis gegen die Sozialdemokratie paktiert. War ihnen das Schlagwort »Sozialfaschisten« je zu vergeben? Der Leiter der Besprechung war ein untersetzter, schwächlicher Mann, er hielt den viereckigen Bart unter seiner Nase ganz still und seinen blanken Rundschädel schräg wie ein Schlafender, aber wenn er aufwachte, eiferte er wie ein erzürnter, unerbittlicher Studienrat. Cresspahl erfuhr nicht den Ausgang des Streits, denn er fuhr mit zwei anderen in die Stadt zurück, und zwar nacheinander in verschiedenen Straßenbahnen, und nämlich diesmal auf der Linie 1 über die Ratzeburger Allee. Auf dem Weg dahin schimpften sie ihm etwas vor über den Lübecker General-Anzeiger. Wollte man diesem Blatt glauben, so hatte der Reichstagsabgeordnete Julius Leber an einem Februarmorgen auf der Großen Burgstraße in einen Streit zwischen dem Nazi Brüggmann und dem Arbeiter Rath eingegriffen mit der Anregung: Stich zu! Insbesondere waren Cresspahls Weggenossen erbost darüber, daß die bürgerliche Zeitung nicht Respekt zeigte vor dem Stand des Reichstagsabgeordneten (der auch Redakteur der sozialdemokratischen Konkurrenzzeitung Lübecker Volksbote gewesen war). Es war vom Verleger Charles Coleman zu erwarten gewesen, nachdem er freiwillig die israelischen Kultusnachrichten aus dem Blatt geworfen, Anzeigen der S. A. mit Hakenkreuzen zugelassen, Biographien von Mussolini und Hitler vertrieben hatte; jetzt war die Zeitung so weit, daß sie nicht nur den Polizeibericht über die Beerdigung des Parteigenossen Brüggmann druckte, sondern auch die Darstellung der N. S. D. A. P.-Kreisleitung davon. Die Schimpferei klang kleinmütig, nach enttäuschter Hoffnung, und Cresspahl stellte sich gelangweilt.
Am Klingenberg traf er keinen seiner Weggefährten an, und ganz unrecht war es ihm nicht, denn sie hatten ihn immer noch nichts sagen lassen über seine Entfernung von der S. P. D. seit 1922. Nach einer Weile verzog er sich zur Beckergrube, wo Erwin auf ihn hatte warten wollen, und saß lange umsonst an einem Hinterhoffenster, in der Guten Stube einer alten Frau, die
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