Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Zustand zeigten, setzte Stellmann am nächsten Tag mehr ab als von jedem anderen Motiv.
Als der Befehlshaber der Stammtruppe vortrat, wurde es unter den Leuten still, ähnlich wie in einer Schulklasse, die es noch mit einem ungeschickten Lehrer, nicht aber mit dem Schulrat aufnehmen mag. Der Oberstleutnant sprach mit gewöhnlichem Stimmton, gelassen, nahezu zivil. Er stellte sich mit Namen vor. Er sah um sich, so daß viele die Einbildung bekamen, sein Blick habe sie betroffen. Er dankte für den Empfang; wie es sich gehörte. Die Truppe werde um den Erwerb des vollgültigen Heimatrechtes bemüht sein; er kannte die Regeln der Gastfreundschaft. Er freue sich dieses Tages; gewichtigere Worte gebrauchte er nicht. Als die Katholiken läuteten, hatte er seine Miene zusammengenommen und den Kopf ein wenig vorgeneigt; er erwies der Kirche Respekt. Er sprach mit einem hannöverschen Anklang, wie ein Nachbar. So wie er den Mund gutmütig offen hielt in Pausen, er hätte aus der Gegend stammen können. Langknochig, mit durchgearbeiteten Muskeln, die linke Schulter vorgenommen, wo er verwundet war. Als er für das Abspielen der beiden Nationalhymnen das Präsentieren der Gewehre befahl, waren die Silben klar zu unterscheiden; es klang fremd, und auf unbehagliche Weise verpflichtend. Der Mann war nicht leicht auszudenken, dafür hatte er vorerst Kredit bei den Jerichowern.
Auf den Fotografien, die Horst Stellmann von den folgenden Gelegenheiten anfertigte, ist Cresspahl nicht mehr zu finden, nicht bei der Schlüsselübergabe vor der Hauptwache, nicht bei der Kranzniederlegung vor dem Ehrenmal für die Toten des Ersten Weltkrieges, nicht beim Platzkonzert von Luftwaffe und S. A. auf dem Markt. Cresspahl blieb auf dem Grundstück, räumte in der Werkstatt, rechnete seine Bücher durch, sonderbar ärgerlich über die Flugzeuge, die mit lärmenden Runden über der Stadt bei den Bewohnern sich anbiederten. Er ging doch vor das Haus und sah zu den Staffelkolonnen empor. Er stand vor seiner Scheune und betrachtete die Fahne, die am Nordgiebel über den Weg hing. Er wanderte hin und her über das Grundstück, das Kinn in der Hand, durch die leeren Stuben, auch durch Lisbeths.
Es ist alles meine Schuld, Cresspahl.
Jetzt ist das meine auch, Lisbeth.
Abends waren Festbälle angesetzt im Lübecker Hof, im Krug, im Schützenhaus, im Försterkrug. Die Cresspahls waren zu dem im Schützenhaus gegangen. Uns’ Lisbeth ließ zweieinhalb Stunden keinen Tanz aus. Sie war so munter, lachlustig locker, ganz anders als die Leute von ihr erzählten. Wenn sie einmal saß, so doch immer neben Cresspahl, eine Hand wie vergeßlich aber fest auf seiner Schulter.
Ich wollte noch einmal mit dir schlafen, Heinrich. Bevor es zu Ende ist, mein ich.
11. Februar, 1968 Sonntag
Bei den Cresspahls lebt seit gestern nachmittag ein schwarzes Kind, und nicht allen ist es recht.
Wir haben das Kind Francine aus einem Durcheinander von Funkwagen und Ambulanz und losem Müll auf der 103. Straße, weg von einer Messerstecherei und einem Zuständigkeitsstreit zwischen Polizisten, Fürsorgern und Hausverwaltern, heraus aus den gleichmütigen Zuschauern, die ihre blutende Mutter und den schreienden Kriechling umstanden. Den nahmen die Ambulanzfahrer mit, Francine wollte der Wachtmeister nicht gern loswerden an weiße Leute.
– Wissen Sie auch, was Sie da tun, lady? sagte er.
Mr. Robinson, der schon wieder ein Bett herleihen sollte aus seinen geheimen Gewölben, war nicht so zufrieden mit der Einquartierung, wie er es bei der Ankunft der Fleurys gewesen war. Er brachte das Gestell an, setzte es ordentlich nach Maries Wünschen in ihrem Zimmer zurecht, aber beim Abschiedsreden blieb er doch ratlos in der Tür stehen, nicht wie bei gewöhnlichen Zweifeln in seinen harten Haarwellen tastend, sondern mit nach unten gekehrtem Kopf, an dem er wahrhaftig kratzte vor Ratlosigkeit. Sein Blick war so versteckt. - Oh, well: sagte er schließlich, nun auch noch mit sich unzufrieden. - Sie wissen ja wohl, was Sie da tun, Mrs. Cresspahl.
Ist es Francine recht? Sie hat bei uns angerufen. Sie kennt Marie aus fast einem halben Jahr Schule, sie kennt die Wohnung von Besuchen. Dann, mit Marie allein, betrug sie sich zutraulich, munter, nahezu gleichberechtigt. Gestern nachmittag, kaum hatten wir sie hinter unserer Tür, war sie gegen Marie so schüchtern wie ehedem gegen Mrs. Cresspahl, an der sie vorbeigelaufen war, um nur ja Blick und Anrede zu entkommen. Setzte sich hin nur
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