Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
dann uns nicht recht. Francine blieb an der Pforte stehen, bis Marie sich umsah. Sie hatte jetzt eine feige, spöttische Miene, sehr von unten herauf, und Marie erkundigte sich harmlos. Francine antwortete nicht, hielt unverändert herausfordernd, als solle Marie etwas zugeben. Vielleicht war es dann richtig, sie an den Schultern aus dem Weg anderer Besucher zu führen; Francine hatte aber nicht erwartet, daß sie wieder an den Riverside Drive mitgenommen wurde.
Jetzt hast du es gesehen, Marie.
Nichts habe ich gesehen. Eine kranke Frau.
Jetzt lügst du, Weiße.
Meine Lügen gehen dich nichts an.
Diese wohl.
Zum Reden darüber kriegst du mich nicht, Francine.
Ich komme mit, aber ich glaube euch nicht.
Francine war es recht, mit einem Stapel Comics in Ruhe gelassen zu werden, und wie versehentlich schubste sie einen von Maries Türflügeln an, so daß sie vor Blicken geschützt war. Sie trieb die Mimikry so weit, daß sie sich schlafend stellte, als Pamela Blumenroth Marie zum Mediterranean Swimming Pool abholte. Dabei schlief sie aber ein, und ihr kleines schwarzes Gesicht kam sehr erschrocken hinter der Tür hervor, schockschwarze Augen in sehr großem Weiß auf die Fremde Andere gerichtet, die in einer fremden Wohnung den Weg zum Ausgang versperrt. Dann, aufwachend, auf Demut und Ersatzleistung aus, sagte sie eifrig: Soll ich Ihnen die Zeitung auf die Straße bringen, Mrs. Cresspahl?
Dann verstand sie nicht, daß Leute in einem solchen Haus ihren Abfall abends in Tüten an den Lastenfahrstuhl stellen können, statt daß sie ihn heimlich an die städtischen Papierkörbe an der Straßenecke tragen müßten. Sie nahm es hin wie noch etwas Unglaubliches, daß Mr. Robinson jeden Abend um zehn Uhr die Stockwerke abfährt und den Müll für den Ofen abholt; das war ihr noch zu erklären.
Nicht zu erklären war ihr, warum Marie ein Bild auf der ersten Seite der New York Times rot umzeichnet hat, neben einem angeschossenen Marineinfanteristen in Danang einen Militärgeistlichen in Drillich, mit einem Kreuz auf dem Helmüberzug, der nach oben starrt, nach Gott und den Evakuationshelikoptern Ausschau haltend.
– Viet Nam: sagte Francine, ungerührt, ohne Neugier, wie von etwas Unbrauchbarem, wie vom Mond.
Marie wird es schon morgen weniger recht sein. Es kam ihr nicht unlieb, daß sie ohne Francine zum Schwimmen gehen konnte, die da womöglich die einzige Schwarze gewesen wäre, schwer zu verteidigen. Morgen, wenn sie mit Francine gemeinsam in der Schule ankommt, sie wird erleichtert zu ihren weißen Freundinnen überlaufen.
Einem der Klassiker wäre es nicht recht. Er hat dergleichen Nachtlager in einem Buche behandelt, und hat seine Leser aufgefordert, das Buch dennoch nicht wegzulegen.
Ich höre, daß in New York
An der Ecke der 26. Straße und des Broadway
Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht
Und den Obdachlosen, die sich ansammeln
Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft
…
Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch.
Einige Menschen haben ein Nachtlager
Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.
Und einem ist nicht anzusehen, ob ihm Francines Unterkommen so recht ist, oder nicht: D. E., der gegen achtzehn Uhr vom Flugplatz Kennedy kommt, frisch zurück aus Europa, der aus Kopenhagen gleich zwei Kleider für Marie mitgebracht hat, davon nun eins für Francine, denn
– Ich weiß alles: sagt er, und Francine glaubt ihm;
– though I am a stranger here myself: sagt er, und Francine lacht ganz offen, bedenkenlos;
– was ich nur tat, um New York sauber zu halten: sagt er; und Francine sieht diesem Weißen mit glänzenden Augen zu, will eifrig ihn erzählen hören von so unverständlichen Gegenständen wie einem »Magasin du Nord« an einem »Kongens Nytorv« in »København«, und ist schon jetzt eifersüchtig auf die Zeit, in der sie ihn mit Marie teilen muß.
D. E.; sogar ein schwarzes Kind würde er an Vaters Stelle annehmen. Wiederum hätte er eine Bedingung dafür zu stellen.
12. Februar, 1968 Montag
Ende Oktober 1938 wurden in Lübeck solche Filme gezeigt:
Eine Nacht im Mai, mit Marika Rökk
Der Tag nach der Scheidung, mit Luise Ullrich und Hans Söhnker
Geheimzeichen L-B-17, mit Willy Birgel
Fracht von
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