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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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nicht ins Krankenhaus. Heute abend kommt Mrs. Erichson.
    – Das will ich nicht.
    – Sie wird in deinem Zimmer schlafen, damit du nicht allein bist, wenn du aufwachst in der Nacht. Es macht ihr nichts, sie schläft nur wenig.
    – Ich will aber nicht, daß Louise Papenbrock nachts an meinem Bett sitzt.
    – Da kannst du gar nichts machen, Gesine. D. E. hat sie auf den Weg geschickt, und sie ist sicherlich schon auf der Höhe von Bayonne.
    – Und einen jüdischen Tierarzt hast du auch geholt!
    – Einen jüdischen Kinderarzt, Gesine.
    – Siehst du!
    – Das ist das Fieber, Gesine. Dr. Rydz hat es mir erklärt, und ich hab keine Angst mehr.
    – Marie. Hab ich sonst noch was geredet?
    – Ja von einem Feuer. In Brooklyn ist ein Mann mit seinem Kind verbrannt.
    – In Brooklyn?
    – Ja, im Viertel Bedford-Stuyvesant.
    – Wann war das?
    – Heute morgen.
    – Heute morgen warst du in der Schule. Du sagst selbst, es ist Freitag.
    – Es ist Dienstag. Und wir waren nicht in der Schule. Du bist doch ansteckend. Vielleicht hast du uns reden hören über das Feuer in Brooklyn.
    – Wer war vorhin hier, Marie?
    – Das war der Arzt, Doktor -
    – Das weiß ich. Davon will ich nichts wissen. Entschuldige.
    – Das ist die Krankheit, Gesine.
    – Es ist aber noch jemand hiergewesen. Ein Mädchen. Von einer Reise zurückgekommen.
    – Das ist Francine. Es tut mir auch leid, daß ich mit dir über sie gestritten habe.
    – Es ist gar nicht so lange her.
    – Freitagabend.
    – Siehst du! Freitag!
    – Francine ist seit vorigem Sonntag bei uns.
    – Also gut, Sonntag. Und es ist doch kein Kind da.
    – Francine ist zur Apotheke gegangen.
    – Marie, es sind aber noch mehr Leute da, und ich kann sie nur nicht sehen in der Dunkelheit.
    – Das hast du geträumt, Gesine. Du hast von Leuten in schwarzen Anzügen und Kleidern geträumt.
    – Ja. Am Sonntag.
    – Du müßtest jetzt schlafen.
    – Ich möchte ein Schlafmittel, aber man darf davon nicht träumen.
    – Ich hol es dir morgen.
    – Ich brauchte es jetzt.
    – Es ist spät in der Nacht, Gesine.
    – Du sprichst mit mir wie mit einem Kind. Und Kinderärzte holst du! Dabei bin ich es doch.
    – Du bist das, Gesine. Du schläfst.

21. Februar, 1968 Mittwoch
    Am Freitagvormittag, nachdem Cresspahl zum gneezer Zug zurückgegangen war, begann Pastor Brüshaver mit der Ausarbeitung seiner Totenrede.
    Eine Rede hatte Cresspahl nicht in Auftrag gegeben.
    Er war von der Brandstätte gekommen, Ruß im Gesicht, den Mantel streifig von Schutt, und hatte Brüshaver Bericht erstatten lassen. Saß geduldig auf dem Besucherstuhl, betrachtete sein Gegenüber ohne es zu sehen, hielt die Hände locker im Schoß ineinander, nicht gefaltet. Die Hände hatte er sich gewaschen. Seine Augen waren eng vor angestrengtem Gedächtnis, und Brüshaver begriff, daß er der letzte Zeuge war, den Cresspahl anhören würde.
    Sie hatte auf der nördlichen Seite des Ziegeleiweges gelegen, auf einen braunen Uniformmantel gebettet, am Creutzschen Zaun. Sie war von vielen Leuten umstanden, mehr als von Friedrich Jansen, Alwin Paap, dem Pflichtjahrmädchen, dem alten Creutz, Amalie Creutz, Aggie Brüshaver und Brüshaver. Die anderen wußte er nicht zu nennen. Es war noch nachtdunkel, das Licht des Feuers schlug nur flackerig herüber. Er entschloß sich, Lisbeths Bekleidung zu verschweigen. Cresspahl fragte ihn. Lisbeth hatte einen blauen Morgenmantel angehabt, der aber offen war, und in dem Nachthemd waren durchgeglühte Stellen aufgefallen. Als Brüshaver an sie herangetreten war, hatte Berling gerade die Hand hinter ihrem Kopf weggenommen. Er blieb aber knien und hatte ihr die Augen zugedrückt, ehe Brüshaver unten war. Das Gesicht schien ganz heil, bis auf frisches Nasenblut und einen Fleck offener Haut unter einem Auge. Dem rechten Auge. Berling hatte das Blut unter der Nase später »Lungenblut« genannt, vom Ersticken. Dann hatte Aggie sie mit dem eigenen Mantel zugedeckt. Friedrich Jansen fragte aus Alwin Paap die Telefonnummer in Wendisch Burg heraus und war dann gegangen. Um halb sieben war die Kriminalpolizei aus Gneez angekommen. Die hatten einen Ambulanzwagen mitgebracht und waren nach einer Besichtigung des Brandplatzes und des Wohnhauses gegen sieben abgefahren.
    Cresspahl wollte noch wissen, wer die Tote auf die Bahre gelegt hatte, gab sich mit den beiden Krankenwärtern zufrieden, stand auf. Brüshaver hatte ihm den Sonntag für die Beerdigung vorgeschlagen. Cresspahl sagte: Montag, um drei.

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