Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
glaubte Cresspahl nicht. Als sie umfiel, mochte sie mit dem Hinterkopf gegen einen vorstehenden Balken gekommen sein; vielleicht war sie danach betäubt und wußte es nicht mehr.
Die Feuerwehrleute hatten sie nicht sofort gefunden, weil das Feuer zu hoch war, zu laut, als sei da noch ein Mensch zu retten gewesen. Sie hatten die erste Tür auf der rechten Seite mit dem Rahmen aus der Wand geschlagen, weil sie verschlossen war. Davon lag näßlicher Schutt auf dem Fußboden. In dem Schutt lag ein Borstenbesen, mit abgebrochenem Stiel, sonst fast sauber. Cresspahl wischte im Knien die Stelle frei, an der er Lisbeth vermutete. Der kreidene Umriß zeigte eine auf der Seite liegende Gestalt, die Arme lang am Leib, wie bei einer Schlafenden.
Sie hatten sich nicht sehr beeilt, sie nach draußen zu tragen.
Um die Futterkammer herum hatten sie gelöscht, mit Eimer nach Eimer von der Pumpe her, um den Beweis zu sichern.
Die Innenwände waren schon dünn gebrannt, aber sie standen noch, und das Dach war noch nicht heruntergekommen. Sie konnten also noch mit ihr aus dem aufgeschlagenen Südtor laufen und weiter auf dem Weg zwischen Werkstatthaus und Holzlager, das eben erst zu brennen anfing.
Dann hatte sie auf der Erde gelegen, bis sie tot war.
– Eine Anzeige von Ihnen, Herr Cresspahl, mehr brauch ich nicht! sagte Vick beschwörend. Er stand im Ziegeleiweg wie aus dem Boden gewachsen, traute sich aber mit seinen kurzen Beinen nicht durch das Gewölle aus Busch und Stacheldraht und konnte Cresspahl nur hinterhersehen. Er hob einen Fuß halb über die Sperre, zog ihn wieder zurück. Jetzt nützte es ihm nicht, daß er Cresspahl doch eingeholt hatte.
20. Februar, 1968 Dienstag
- Möchtest du einmal aufwachen, Gesine?
– Ich kann nicht.
– Nur ein wenig, Gesine.
– Du bist Marie.
– Es muß nicht sein, Gesine.
– Du bist es doch.
– Ja. Aber ich habe keine Angst.
– Bin ich in einem Krankenhaus?
– Du bist in deinem Zimmer, Gesine.
– Es ist aber dunkel wie in einem Grab.
– Weil wir alles verhängt haben. Du sollst nichts Helles sehen.
– Dann bin ich bloß krank?
– Dr. Rydz möchte nach dir sehen.
– Dr. Rydz?
– Er weiß doch nicht bloß mit Kindern Bescheid, Gesine.
– Sie haben eine fiebrige Grippe, Mrs. Cresspahl. Es ist fast eine Epidemie in der Stadt.
– So sind Sie also doch zurückgekommen, Dr. Semig.
– Es macht mir nichts aus, zu Ihnen zu kommen, Mrs. Cresspahl.
– Sie sollten sich doch im Amtsgericht Hamburg melden, Herr Semig.
– Gewiß, Mrs. Cresspahl.
– Sie können nämlich widrigenfalls für tot erklärt werden, Herr Semig.
– Es wird alles in Ordnung kommen, gnädige Frau.
– Nein.
– 39,2.
– Wieviel ist das in Fahrenheit?
– 102,6, Miss Mary. Es ist nicht gefährlich.
– Heute morgen hatte sie 103,6.
– 39,8. Das kommt nicht wieder so hoch.
– Sie ißt aber nichts.
– Bis morgen, Mrs. Cresspahl.
– Vergessen Sie es nicht! Amtsgericht, Hamburg.
– D’y’wanna drink some?
– Du bist nicht Marie.
– I do not get you, Mrs. Cresspahl.
– You are not Marie.
– Certainly not. I’m Francine.
– Marie.
– Mary!
– Du kannst jetzt wieder schlafen, Gesine.
– Ich muß ins Office.
– Ich hab dich entschuldigt.
– Das kannst du gar nicht. Niemand kann das.
– Mr. Kennicott II sagt, du sollst vor Montag nicht in die Bank kommen. Mit schönen Grüßen.
– Den kenn ich nicht.
– Er weiß aber von dir sogar die Schuhgröße. Nein, welche du nicht hast.
– Marie, ich muß ins Office.
– Du mußt schlafen, Gesine.
– Und wovon willst du leben?
– Ich kann kochen, ich kann backen –
– und übermorgen / stehl ich / der Königin Kind. And there will be / an end of me.
– Of him, Gesine. Rumpelstilzchen.
– Welcher Tag ist heute, Marie?
– Tuesday.
– Es müßte aber Freitag sein.
– Am Freitag bist du mit Kopfschmerzen von der Arbeit gekommen. Am Sonnabend haben wir einen Tag der South Ferry veranstaltet, und es tut mir leid. Seit Sonnabend nacht liegst du im Bett, und am Sonntag kam Dr. Rydz zum ersten Mal. Seit dem hast du geschlafen und im Schlaf gesprochen.
– Ich sprech nicht im Schlaf, Marie!
– Das weiß ich. Dr. Rydz hat es mir erklärt. Es gehört zur Krankheit. Du weißt nicht immer, wo du bist.
– Ich weiß es wohl.
– Und was ist mit dem Jahr 1906? Dem 12. November?
– Da ist Lisbeth Papenbrock geboren.
– Davon hast du gesprochen. Lange.
– Ich will ins Krankenhaus.
– Du kannst
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