Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gestellt hatten. Es war ein Fabrikstück, mit schwarzem Spirituslack gefärbt. Der Sarg war von der Gestapo aus Gneez geschickt, und am Abend sollte Swenson ihn zu einer nächtlichen Beisetzung nach Gneez fahren. Das Kind lag darin sehr lang, den Kopf steil nach hinten, die Arme an den Seiten. Das Blut, das aus dem Loch in der Schläfe gelaufen war, war so behutsam weggetupft, daß die Spur noch zu erkennen war, und an die Wunde selbst hatten sie sich gar nicht gewagt. Oskar stellte sich auf vor Brüshaver, als wollte er ihm den Weg zu der Toten verlegen. Er sagte mürrisch, nicht feindselig: Sie is nu gestorben wie ne Jüdin; so soll sie denn ne jüdische Beerdigung kriegen. Als Swenson abends mit seinem Leichenwagen vorfuhr, stand das Haus leer, im Innern so zerwühlt und voll Wasser, wie die S. A. es hinterlassen hatte. Das Haus gehörte den von Bobziens; deshalb hatte Jansen durch Löschen dem Feuer vorbeugen wollen, das nicht da war. Die Tannebaums waren durch die Feldstraße aus der Stadt gezogen, mit dem Sarg und dem kleineren Bruder der Toten auf einem Ackerwagen, die Eltern zu Fuß, die Frau neben dem Pferd, Oskar neben dem Jungen, der nach hinten sah. Wenn sie nach Lübeck wollten, mußten sie über viele Kilometer aufgeweichte Wege, ehe sie auf eine Chaussee kamen. Jetzt war es Freitagnachmittag, und sie waren bei keinem Gut, in keinem Dorf gesehen worden. Der Anstand mit der Superintendentur und der Gestapo wegen der christlichen Beerdigung für die kleine Jüdin war Brüshaver nun erspart; nun sollte er für Lisbeth Cresspahl noch mehr riskieren als eine Verwarnung.
Gewiß verbietet die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich. Aber es ist an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt. Es war nun einmal so, daß der Selbstmord die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung; er konnte das Lisbeth Cresspahl doch nicht absprechen vor versammelter Gemeinde. Brüshaver kam ins Lesen. Er suchte nach dem Beweis dafür, daß Gott sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten habe, weil ihm allein bekannt sei, zu welchem Ende er dies Leben führen werde. Es war ein flüchtiges, unbehagliches Gefühl, so zu lesen; es war mit der Aufgabe entschuldigt, es war ein Vorwand, von der Aufgabe wegzugehen.
Am späten Nachmittag fiel Brüshaver ein, daß er nicht sicher wußte, ob Lisbeth sich mit Vorbedacht und Absicht aus dem Leben gebracht hatte. Es war nur Cresspahl, der einen Selbstmord zugegeben hatte, indem er um die Ausnahme gebeten hatte; Cresspahl war in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag weit weg von Jerichow gewesen. In der Stadt wurde von einem Unfall gesprochen, auch das Gerücht von einem Mord hatte Jansen in Gang gesetzt, indem er Lisbeth so hartnäckig nachsagte, sie selber habe Hand an sich gelegt. Brüshaver fuhr mit dem Sechsuhrzug nach Gneez. Er fand Cresspahl in der Böttcherschen Werkstatt. Böttcher brachte den jerichower Pastor nur bis an die Tür. Böttcher leuchtete ein, daß Cresspahl den Sarg für seine Frau mit eigenen Händen bauen wollte; ihm war doch genierlich dabei, und ihm war zuwider, daß wer immer den Kollegen bei dieser Arbeit beobachtete.
Cresspahl sah Brüshaver freundlich entgegen, legte seine Arme zum Ausruhen lang über den unteren Teil des Kastens, den er nach acht Stunden vollständig fertig hatte. Brüshaver stellte seine Frage. Er merkte, daß er dabei in einen bittenden Ton geriet, und obendrein betrachtete Cresspahl ihn wie ein Lehrer den Schüler, der eine Sache nach einfacher Erklärung immer noch nicht begriffen hat. - Jå: sagte er geduldig, etwas wie Belustigung in den Augenwinkeln. Brüshaver wiederholte seine Frage. Lisbeth habe an Gott doch geglaubt. Jetzt stopfte Cresspahl sich eine Pfeife, zündete sie an, klappte den Deckel zu, spuckte auf das Streichholz. - Jetzt wird er ihr das wohl glauben: sagte er. Er stand auf, nicht weil Brüshaver nichts zum Sitzen gefunden hatte, sondern um sich zu recken, die Pfeife hoch in der Faust. Er wartete auf die nächste Frage. Brüshaver betrachtete mit einer Art Entsetzen den Mann, der seiner Frau solchen Tod nachsagte, der den Verlust der Versicherungssumme für Werkstatthaus und Maschinen in Kauf nehmen wollte, damit sie diesen ihren Tod für immer behielt. Er ließ sich von Cresspahl eine gute Nacht wünschen und ging, blieb aber auf dem Hof noch einmal stehen. Cresspahl hatte sich wieder neben den Sarg gesetzt, saß krumm da, ließ die Hände mit der Pfeife nach innen
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