Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hängen. Offenbar wollte er die lästige Unterbrechung wenigstens als Arbeitspause benutzen. Er schien gar nicht fremd in der fremden Werkstatt.
Wenn Gott den Selbstmord nicht verbietet, führt er nicht dem Verzweifelten die Hand, wenn er ein solches Ende zuläßt? Wenn Gott das Recht des Lebens selbst wahrnimmt, ist nicht auch dessen Ende Auftrag Gottes? Jetzt hatte Brüshaver nur noch den Sonnabend, und nicht eine halbe Seite war geschrieben.
Am Sonnabend war Cresspahls Anzeige im Gneezer Tageblatt. Unterzeichnet war sie von den Familien Papenbrock, Paepcke, Niebuhr, aber geschrieben hatte sie Cresspahl. Da war keine Rede von tragischem Geschick, von Gottes (unerforschlichem) Ratschluß oder davon, daß Lisbeth aus dem Leben genommen (gerissen) worden sei. Da stand: Lisbeth Cresspahl ist aus dem Leben gegangen.
Die Kriminalpolizei hatte sie freigegeben. Am frühen Vormittag brachte Swenson sie nach Jerichow, aber ehe die Nachricht in der Stadt herum war, war vor Cresspahls Grundstück neuer Stacheldraht gespannt. Wer da vorbeikam wie auf einem zufälligen Gang, sah wohl Cresspahl, Paap und Heine Klaproth einen Weg zur Haustür freilegen in den Haufen verkohlter Stämme und Ziegelschutts; zum Haus hin traute sich Keiner. Offenbar hielt auch Vick den Hof nicht mehr für einen Tatort. Und Aggie Brüshaver ging zu ihrem Mann ins Dienstzimmer und erzählte ihm, daß sie alle Naselang gefragt worden war nach der genauen Zeit der Cresspahlschen Beerdigung, eher gierig als betrübt, und daß Frieda Klütz sich in den zwei Tagen bis zum Montag ein neues schwarzes Kleid machen ließ.
Danach ging Brüshaver das Schreiben von der Hand. Zu Mittag konnte Aggie sich an die Maschine setzen. Am Nachmittag machte er Besuche, und alle, die ihn gelassen wie gutmütig gesehen hatten, konnten es am nächsten Tag nicht mehr glauben.
Der 22. Sonntag nach Trinitatis war nach dem Willen der Regierung in Berlin ein Eintopfsonntag. Aber Friedrich Jansen war auswärts zu etwas, was sich ein Ehrenverfahren nannte, und ohne ihn traute die S. A. sich nicht, unter dem Vorwand von Besuchen nachzuprüfen, ob ein Haushalt nicht doch einen Braten auf dem Tisch hatte. Die Kirche war nicht dichter besetzt als gewöhnlich. Cresspahl war nicht da.
Brüshaver fing an mit Matthäus 18, mit der Bedingung für den Eintritt in das Königreich des Himmels: wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder. Da ist die Rede von dem Menschen, der das Kind zum Stolpern bringt, für den es besser wäre, man hängte einen Mühlstein um seinen Hals und ertränkte ihn in den Tiefen der See. (Brüshaver ließ die Stelle aus, die von der Notwendigkeit solcher Übel in der Welt handelt und dem Elend androht, der es bewirkt.) Dann kam die Sache mit den hundert Schafen. Wenn eins sich verläuft, läßt man nicht die neunundneunzig zurück, um dies eine zu suchen? Und wenn man es findet, ist es das liebste. Und sieben mal siebzig Male sollst du vergeben.
Dann hielt er den Jerichowern die Rede, die Cresspahl am Grab nicht hatte hören wollen. Er hielt sie für Louise Papenbrock, die es auch jetzt nicht lassen konnte, mit steifer Haltung und angehobenem Kinn Stolz zu zeigen darauf, daß schließlich niemand Anderem die jüngste Tochter gestorben war. Er hielt sie für Albert Papenbrock, der erst streng auf die Kanzel sah, als übe er eine Pflicht aus und etwas Schimpfliches obendrein, dann nachdenklich wie über einen Vorschlag. Er hielt sie für Leute wie Richard Maaß, die den Kirchgang an diesem Tage eher als einen Tadel für ungehöriges Betragen auffassen wollten. Er hielt sie für den einen, der die Nachschriften seiner Predigten zur Geheimen Staatspolizei trug. Er hielt sie für Hilde Paepcke, die weinte. Er hielt sie für Lisbeth, und er entschuldigte sich bei ihr. Er hielt sie für Cresspahl.
Es ging die Bürger von Jerichow gar nichts an, wie Lisbeth Cresspahl gestorben war. Der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich. Es sei eine Sache zwischen Lisbeth und ihrem Gott, daß sie von ihm mehr erwartet habe, als er habe geben wollen. Sie sei zum Sterben so frei gewesen wie zum Leben, und wenn sie auch besser das Sterben ihm überlassen hätte, so habe sie doch ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind. Ob das ein Irrtum gewesen sei, werde sich nicht in Jerichow herausstellen.
Hingegen ging es die Bürger von Jerichow sehr wohl an, daß Lisbeth Cresspahl gestorben war.
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