Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Brüshaver hatte an eine Leichenfeier in der Kirche gedacht, und Cresspahl sagte: In die Kirche muß sie nicht. Brüshaver fragte nach dem Text für die Zeremonie am Grab, und Cresspahl holte das Blatt aus der Manteltasche, das jetzt in der Bibel des Hotels Stadt Hamburg fehlte. Es war der 39. Psalm, mit ausgestrichenen Sätzen. Cresspahl legte das Blatt auf den Schreibtisch, als sei er nicht sicher, daß der Pastor es in seiner eigenen Bibel finden werde. Was Cresspahl dann noch zu erbitten hatte, kam ihn gar nicht hart an, so oft war er dabei angekommen. Die Bitte ging ihn gar nicht an, es war etwas für Lisbeth, und Brüshaver fühlte sich eher ersucht um eine beiläufige Gefälligkeit. Er wisse, daß es nicht üblich sei: sagte Cresspahl. Aber es solle seiner Frau am Grab nichts abgehen.
Und es wird dir nichts mangeln.
Dieser Cresspahl hatte bestellt: Votum, Lektion, Gebet, Vaterunser, Einsegnung, Segen. Das waren drei Handlungen mehr als die Mecklenburgische Landeskirche Selbstmördern gewährte.
Brüshaver ging Cresspahl hinterher in die Küche, wo Aggie ihm eine Waschschüssel hingestellt hatte und den Mantel abbürstete. Als Cresspahl sich das Gesicht abgetrocknet hatte, fragte Brüshaver nach der Aussegnung im Haus. - Nè: sagte Cresspahl, und Brüshaver verstand, daß der andere die Kirche nicht mehr im Haus haben wollte, nun er darin allein war. Dazu hätte Cresspahl gar nicht mehr das Handtuch so säuberlich über einen Stuhl hängen müssen, wie etwas, das er zum letzten Mal benutzt hatte.
Dann mußte Brüshaver noch ansehen, wie die eigene Frau sich dem anderen an die Brust warf, als wolle sie etwas vergeben haben.
Die Frau setzte ihm alle zwei Stunden neuen Kaffee auf den Schreibtisch, brachte ihm sogar das Essen hinein, damit er ja nicht von seiner Arbeit loskam, nicht für eine Viertelstunde. Eine verheulte Frau im Haus und drei Kinder, die wie verprügelt an der Tür vorbeischlichen, wie sollte ein Mensch da arbeiten!
Aggie wollte, daß Lisbeth in die Sonntagspredigt kam. Das war gegen alle Gewohnheit und Vorschrift. Wenn sie unter der Erde war, am Sonntag danach konnte sie im Gemeindegottesdienst genannt werden. Das wußte die Frau. Er hatte bei der Frau etwas zu verlieren. Dieser Cresspahl wollte, daß die Kirche eine Mitschuld an dem Tod seiner Frau eingestand. Er würde den nie wieder in der Kirche sehen, was immer er tat; dennoch mochte Brüshaver nicht denken an ein Leben neben einem Nachbarn, der keine Achtung vor ihm hatte. Das ist Eitelkeit, Brüshaver. Du magst nicht ertragen, daß Einer dir den Gruß verweigern wird, solange du in der Stadt bist. Es ist nicht Eitelkeit.
Brüshaver hatte noch keine drei Worte auf dem Papier, da kam schon einer stören. Vick, von der Kripo Gneez (nicht von der Gestapo). Der wollte von Streitigkeiten zwischen Friedrich Jansen und Cresspahl hören. Er begriff nicht, daß die beiden in Jerichow saßen wie an den entgegengesetzten Enden der Welt, und daß der Streit zwischen ihnen von den Einwohnern in Gang gesetzt und gehalten war. Ob Jansen ein Racheakt zuzutrauen sei. Ein Racheakt war ihm zuzutrauen, aber nur im Suff und wenn Cresspahl nicht in der Stadt war; Brüshaver glaubte an eine Falle und schwieg sich aus. Warum verdächtigte ein Mann wie Vick einen, sagen wir verdienstvollen, nationalsozialistischen Kämpfer? Wozu brauchte er diese eine Anzeige, damit er Jansen erst einmal in Haft hatte und ihm dann die Fehler im Finanzbericht der Stadt Jerichow anlasten konnte? - Weil das Pack aus unseren Reihen verschwinden muß! - Weil ich ein gläubiger Nationalsozialist bin!
Die Bibel verbietet an keiner Stelle ausdrücklich den Selbstmord. Die junge Frau Cresspahl hatte danach gefragt, als sie noch am Leben war. Wenn man es recht besah, hatte sie unüberhörbar um Hilfe gebeten. Es mochten andere in der Stadt sein, von denen sie Beruhigung, Stütze, Auskunft erhofft hatte; die mußten das nicht zugeben. Der Pastor hatte die Pflicht, das einzugestehen. So kann aber eine Predigt zum 22. Sonntag nach Trinitatis nicht anfangen.
Brüshaver war am Donnerstag gegen Mittag zu den Tannebaums gegangen, nachdem sie sich nicht gemeldet hatten wegen der Beerdigung von Marie. Brüshaver hatte ihnen ein Begräbnis (ein »stilles«) auf seinem Friedhof anbieten wollen, wenn Oskar das Sagen hatte und die Frau das Kind nicht zu den Katholiken bringen wollte. Er fand die Familie im Wagenschuppen auf dem Hof. Sie saßen auf Stühlen um den Sarg, den sie auf die Erde
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