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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die »schöne« war, nahm sie beide auf den Rücken. Dann faßten sie ihr auf den Kopf. Sie war sehr ärgerlich. Sie verstand nicht, warum Martin und Matthias Brüshaver einen Diener vor ihr machten, und Marlene einen Knicks. Das war doch für Erwachsene. Das Kind war müde. Nach drei Tagen bei den Fremden auf der Schleuse war sie am frühen Morgen von Wendisch Burg abgefahren. Die Niebuhrs hatten ihr nichts sagen mögen, und sie hatte deren gedrücktes Wesen, die mitleidige Streichelei nur aus Gehorsam gegen den Vater ertragen. Der Vater hatte lange gezögert, bevor er sie zu der Mutter mitgenommen hatte. Dann hatte er vergessen, ihr zu sagen, daß das Feuer nicht irgend wo, sondern auf dem eigenen Hof gewesen war, und es war ihr schwer gefallen, das Grundstück, das nackte Wohnhaus zu erkennen. Als Cresspahl sie in das ausgeräumte Büro führte, war es ganz finster von Leuten in dunkler Kleidung. Das war die Verwandtschaft; so verwandt bin ich; sie erkannte aber nicht alle. Auf dem großen Tisch, in der Mitte des Zimmers, stand ein Kasten aus hellem Holz, in dem etwas war, denn es sahen manche dahin, manche auf sie. Cresspahl hatte sie hochgehoben. In dem Kasten lag jemand. Das Kind tat einen Schritt in der Luft, und noch einen, bis Cresspahl sie auf den Tisch neben den Sarg stellte. Es war angenehm, daß er sie nicht losgelassen hatte. Ihr war gesagt worden, daß da die Mutter lag, und sie versuchte, sie sich vorzustellen. Die da lag, war größer als in der Erinnerung. Sie war sonderbar zugedeckt, bis zur Mitte. Sie kannte die schwarze Jacke und die weiße Bluse mit den geplätteten Bändern unter dem Hals. Das Gesicht war unkenntlich, so bunt. Auch als ob es in sich weggerutscht wäre. Diese Art Lächeln kannte sie nicht. Die Haare, füllig locker, sahen künstlich aus. Sie versuchte auf dem Tischrand weiterzugehen, zumindest bis zu den gefalteten Händen, um sie anzufassen. Dann führte Cresspahl sie am Arm bis zu den fremden Händen. Sie sah ihn an, und sein Nicken erlaubte es ihr. Die Hände waren aber nicht heiß wie von Feuer, sondern kalt, wie ein Schaufelstiel im Winter. Dann war sie in eine Ecke des Zimmers gestellt worden, und Cresspahl hatte einen Deckel auf den Kasten gesetzt. Dann hatten draußen die kleinen Glocken zu läuten angefangen, wie sonst zu Begräbnissen. Jetzt mußte sie im Kalten stehen, angeklebt an die nasse Erde, und die Mutter sollte in die Erde gesperrt werden für alle Zeiten, ganz anders als sie gesagt hatte. Als Cresspahl Gesine über die Schulter nahm und von dem offenen Grab wegging, schlief sie schon.
    Um fünf Uhr nachmittags hatten sie Brüshaver immer noch nicht geholt.
    Brüshaver verbrachte eine Anstandszeit im Papenbrockschen Haus, in dem Louise eine große Tafel gerichtet hatte. Er blieb nicht lange. Louise Papenbrock war an ihrer herablassenden Art gegenüber dem Pastor irre geworden und versuchte es nun einmal mit ausgesuchter Zuvorkommenheit, die ihr schief gelang. Sie wechselte auch zu rasch vom innigen Dasitzen in mütterlicher Trauer zu der Geschäftigkeit der Hausfrau, die zwanzig Leute mit Essen und Trinken versorgen will und der Köchin wie dem Dienstmädchen in der Küche auf der Treppe im Speisesaal auf den Mund auf die Finger auf die Augen sehen muß. Brüshaver merkte auch, daß die Trauergäste sich allmählich auf den Alltag besannen, und nutzte das erste leise Drängen von Aggie, sich von der Gesellschaft zu verabschieden.
    Das Schweigen an dem langen Tisch war nicht verbissen, es setzte sich auch kaum für lange Zeiten; dennoch lief da Zerstrittenheit kreuz und quer: Papenbrock hatte es mit seinem Sohn Horst wie dessen Frau, weil beide am Abend nach Güstrow zurückfahren wollten, so daß sich nichts bei einer Unterhaltung in Ordnung bringen ließ; wenn es um Rachsüchtigkeit ging, so hielt der Alte die für sein eigenes Vorrecht. Er hatte es mit jenem Robert, der nicht einmal ein Telegramm aus Übersee geschickt hatte, so daß Papenbrock vermittels einer gefälschten Kranzschleife dessen Beileid hatte vortäuschen müssen. Louise hatte es mit Cresspahl, weil sie den ersten Platz bei der Begräbnishandlung hatte abgeben müssen; mit den Niebuhrs aus Wendisch Burg, weil sie so niedergeschlagen und still dasaßen, als verstünden sie das Trauern doch besser als eine Gastgeberin, die immerhin die Ohren vollhat; mit Lisbeth, weil sie ihr das hatte antun können, was sie sich selber angetan hatte; mit Alexander Paepcke, weil vor ihm schon die zweite Flasche

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