Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Sie hatten mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte. Jetzt kam die Aufzählung, die die Grundlage des Urteils gegen Brüshaver wurde. Er fing an mit Voss, der in Rande zu Tode gepeitscht worden war, er vergaß weder die Verstümmelung Methfessels im Konzentrationslager noch den Tod des eigenen Sohns im Krieg gegen die spanische Regierung, bis er in der Mittwochnacht vor dem Tannebaumschen Laden angelangt war. Gleichgültigkeit. Duldung. Gewinnsucht. Verrat. Der Egoismus auch eines Pfarrers, der gesehen habe nur auf die Verfolgung der eigenen Kirche, der geschwiegen habe entgegen seinem Auftrag, unter dessen Auge ein Gemeindeglied sich einen eigenen, unentwendbaren, gnadenlosen Tod habe suchen können. Wo alle Gottes immerwährendes Angebot zu neuem Leben nicht angenommen hätten, habe ein Mensch allein darauf nicht mehr vertrauen können. Segen. Schlußchoral. Ende.
Und du hast es ihm noch getippt, Aggie.
Es war, als ob er aufgewacht wäre.
Du wußtest aber den Preis.
Brüshaver war nicht eitel, Gesine.
Und wenn er an die Familie gedacht hätte?
Das brauchte er nun nicht mehr. Was Aggie war, die war stolz auf Brüshaver.
Weil er nun aufgehört hatte, falsch zu leben?
Laß doch den theologischen Quatsch, Gesine. So war er mir recht.
Und ihr habt es nicht für euch getan.
Wir haben es für Lisbeth getan, Gesine.
Als ob ich Toten glauben sollte, weil sie tot sind.
Glöw du uns man.
Man mütt dei Lür sprekn latn, dei Gäus kœnen’t nich.
Glöw du uns man, Gesine.
22. Februar, 1968 Donnerstag
Die Petrikirche zu Jerichow nahm 1938 für die Dienste des Pastors bei einem Begräbnis zehn Mark, an Gebühren für großes Glockengeläut sechs Mark, für die Mitwirkung eines Kantors fünf Mark, für Benützung und Reinigung der Kirche fünf Mark, an Läutelohn für zwei Stunden dreißig Mark, für das Graben der Gruft zwölf Mark. Die Gebühren waren im voraus zu entrichten. Für Lisbeth Cresspahl war aus diesem Katalog alles, bis auf den geschlossenen Raum und das genierliche Singen bestellt; und als die Glocken, eben von Ohlsson in Lübeck umgelagert und auf elektrischen Betrieb umgestellt, anfingen mit ihrem d f g h, wurde in vielen Häusern der Stadt die Arbeit hingelegt. Offenbar nahm die Luftwaffe die Erwerbung des Heimatrechts ernst und hatte im Tagesbefehl für den 14. November darauf hingewiesen, daß in diesem Ort Fußgänger und Fuhrwerke und Kraftwagen beim Anblick eines Trauerzuges anhielten; und heute genügte allen das akustische Signal, denn Lisbeth kam nicht noch durch die Stadt.
Als die Glocken um drei Uhr nachmittags den Beginn der Beisetzung ankündigten, wurde der Sarg auf dem säuberlich geharkten Weg zwischen Schutt und Brandresten vom Hof getragen. Der Sarg war hell, glatt, nicht lackiert. Er sah sehr haltbar aus. Die Träger waren Alexander Paepcke und Peter Niebuhr, beide in Heeresuniform, Horst Papenbrock und Peter Wulff, Alwin Paap und Mr. Smith. Hinter dem Sarg gingen Cresspahl mit dem Kind, dann die alten Papenbrocks, dann die Eingeladenen. Als Lisbeth durch die offene Leichenhalle auf den Friedhof getragen wurde, begannen die Wartenden durch die mannsbreite Pforte nachzudrängen; auch zwischen den Kreuzen und Steinen standen schon Leute, schwarz, still, wie versteckte Gespenster.
Uns’ Lisbeth.
Kiek dat Kint.
Is nicks so ungesunt as dat Kranksien.
Ottje Stoffregen is all dun.
Daß sie Brüshaver nicht abgeholt haben!
Den Segen traut er sich nich. Den traut er sich nich.
Wer sich hier nichs traut, bist du, Julie.
Arm un Bein kann’n nich an’t Für leggen; ’t mütt Holt sien.
Im November sterben, das möcht ich nicht.
Nävelmånd.
Für ein Judenbalg.
Es mag Marie doch helfen.
Und es ist nicht recht, es soll nicht sein! Wenn sie sich umgebracht hat, muß sie in die Ecke zu den Selbstmördern, wo die Ungetauften liegen!
So ne schöne Beerdigung möcht ich wohl auch.
Uns’ Lisbeth. Das wird wohl über uns kommen.
Als Lisbeth abgesetzt wurde an dem Los, das zum Cresspahlschen Haus gehörte, fing weitab in einem Dachfenster ein Junge zu winken an, und ein anderer rannte in das Nordportal der Kirche, und das Läuten hörte so unverhofft auf, daß die Stille wehtat. Jetzt rückten alle aus dem Abseits eilig um das offene Loch zusammen.
Brüshaver sprach das Votum. Das erlaubten die Vorschriften der Mecklenburgischen Landeskirche. Er sprach wie gestern in der Predigt, nüchtern, auf eine ärztliche Art verordnend, ein wenig lauter.
– Im 39.
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