Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Psalm steht geschrieben: sagte Brüshaver. Das war die Lektion, und das war für diesen Tod nicht erlaubt. Brüshaver hatte sich Cresspahls Streichungen so eingeprägt, er hakte nicht ein einziges Mal an. Er begann mit dem 4. Vers, in dem es heißt, daß »mein Leben ein Ziel hat«. Cresspahl hatte davor die Todesqual abgeschafft, auch das im Innern verbrennende Herz, und das Fieber. Von Vers 4 ging es bis Vers 8; danach fehlte Lisbeths Versprechen zu schweigen, ihre Bitte um ein Ende der Quälerei und ihr Geständnis, sie sei erschöpft von Gottes Schlägen. Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien und schweige nicht über meinen Tränen; denn ich bin dein Pilgrim und dein Bürger wie alle meine Väter. O spare me, that I may recover strength, before I go hence, and be no more.
Hier sollte die Grabrede stehen, aber Brüshaver trat einen halben Schritt zurück, damit der Arbeitsraum für das Versenken des Sarges größer wurde. Das Kind sah an Cresspahl empor; erstaunt, daß er das Begraben der Mutter erlaubte.
Dann folgten Gebet und Vaterunser, beides zugelassen. Während Brüshaver mit seinem Gott verhandelte, betonte er, daß dieser allein wisse, was vorgegangen sei in der Seele dieses Menschen, den wir heute begraben. Mr. Smith, der die unverständlichen Worte mit englischen zu ersetzen versuchte, war verwirrt davon, daß in diesem Land die Männer ihr Gesicht beim Beten verstecken, und beim Amen erleichterte es ihn doch, daß sie wirklich alle ihre Hüte vor dem Kopf gehalten hatten.
Lisbeth bekam ihre Einsegnung. Brüshaver warf dreimal Erde auf den Sarg, erhob die Hand über das Grab und sagte das von der Erde zur Erde, Staub zum Staube, in der Hoffnung der Auferstehung zum ewigen Leben durch unseren Herrn Jesum Christum (zweifelhafte Deklination), welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge sich untertänig machen. Was soll das heißen, Wirkung; das haben die sich doch aus einer Emanationstheorie gepumpt. In der Einsegnung wird in der zweiten Person Einzahl angeredet, wer begraben werden soll, und Brüshaver sprach mit Lisbeth leichthin, freundlich, wie man einem Kinde verspricht, es werde nicht sterben. Amen.
Dann sprach Brüshaver den Schlußsegen, der Lisbeth auch nicht gewährt werden sollte. Nun hatte er es nicht nur mit der weltlichen Obrigkeit verdorben, sondern auch noch mit der Kirche.
Jetzt winkte wieder der Junge im Dachfenster nach unten, und der unten rannte in die Kirche. Nun drückte Oll Bastian den Knopf für das Läuten, das zwei Stunden lang über der Stadt hängen würde. Pauli Bastian war mit den neuen elektrischen Moden nicht glücklich; er hatte früher beim Läuten vier Gehilfen unter sich gehabt. Und dabeistehen mußte er doch. Und er war mit der unaufgeregten, amtlichen Art des Pastor Brüshaver inzwischen im fünften Jahr nicht zufrieden; mit dem Großen Läuten hatte Brüshaver es endgültig verschüttet, sich selber ein Bein gestellt, un wenn dat sien sall, föllt ein’ up’n Rückn und braekt sick de Snut.
Brüshaver nahm sich ausgiebig Zeit, das Barett wieder aufzusetzen. Er blieb einfach vor Cresspahl stehen, bis der sein Gesicht wieder in Ordnung hatte.
Dat dau ick föe di, Lisbeth. Föe di dau ick dat. Oewe sühst du dat?
In der Reihe standen sie so: voran Gesine neben Cresspahl, dann die alten Papenbrocks, Paepckes, die jungen Papenbrocks, die Niebuhrs aus Wendisch Burg und Berlin. Cresspahl sah die Beileidwünscher so aufmerksam an, sie konnten es mit undeutlichem Murmeln nicht abgehen lassen, und manch einer gab sich mit Schweigen beim Händedruck zufrieden. Wulff sagte: Dat harr se nich verdeint; er meinte nicht den Tod allein, sondern auch was Cresspahl den Pastor hatte riskieren lassen. Nun mußte Wulff sieben Jahre lang glauben, es sei diese Bemerkung schuld daran, daß Cresspahl nicht mehr in seinen Krug kam, ihn auf der Straße nicht grüßte, ihn nicht einmal sah. Das wußte er noch nicht. Käthe Klupsch trat in den schmierigen Lehm wie ein Huhn in eine Pfütze; so besorgt war sie um ihre Schuhe. Mr. Smith sagte verlegen, hilflos: You know -; und ihm gab Cresspahl eine Antwort und sagte: I do. Es dauerte wohl zwanzig Minuten, ehe die Prozession der Händeschüttler an allen vorbei war.
Gesine hatte sich so dicht an ihren Vater gestellt, daß ihre rechte Hand versteckt war. Als ihr aufging, daß dann alle die andere nehmen würden, obwohl es nicht
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