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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Rotspon stand. Horst hatte es mit seinem Vater; er hatte es vor allem mit Peter Niebuhr, weil dieser junge Kerl, den er bei Lisbeths Hochzeit noch zu den Proleten gerechnet hatte, nun bei einem Ministerium in Berlin war und sich mit Erfolg herausnahm, ihn über die Saatenanerkennung zu belehren. Hilde hatte es mit dem wuseligen Gehabe ihrer Mutter und mit Cresspahl, weil der sich so anstellte mit seinem Kind und es ihr nicht mitgeben wollte nach Podejuch. Alexander hatte es mit Cresspahl, weil der sich so lange am unteren Ende des Tisches aufhielt bei lauter fremden Lübeckern, von denen einer Erwin Plath hieß; Alexander hätte gern nicht mit den langsamen Schmoogs getrunken, sondern mit dem Schwager. Alexander hatte es mit sich selbst, weil er die Uniform aus Eitelkeit angezogen hatte und ihn doch jeder als einen Verwaltungsoffizier erkannte. Alwin Paap fühlte sich ungeheuer bedienstet, und wünschte sich weg. Die Schmoogs, die Niebuhrs, Heinz Mootsaak waren erstaunt, daß die Papenbrocksche wohl für die Paepckes vornehme Zimmer eingerichtet hatte, in denen für sie jedoch Wäschekörbe stehengeblieben waren oder die Waschschüssel fehlte; die waren nicht ärgerlich. Peter Niebuhr hatte es mit niemandem, nur daß er gern die Unterhaltung mit Horst Papenbrock losgeworden und am liebsten mit Martha vor die Stadt gegangen wäre. Er blieb aber jenem Mr. Smith aus Richmond zuliebe, der so erfreut war über Marthas Oberschulenglisch; nun konnte er auf seine Frau auch noch stolz sein. Mit Cresspahl hatte es niemand.
    Als das erste Abendläuten durch war, standen sie in Papenbrocks Haus auf. Dann drückte Oll Bastian den Knopf noch einmal, und nun kam das eigene Abendläuten für die, die heute begraben worden war.
    Sie holten Brüshaver in der Nacht, vier Stunden vor Morgen.
     
    – Gesine, wach auf.
    – Warum.
    – Du sprichst im Schlaf.
    – Ich sprech nicht im Schlaf.
    – Ich soll dich wecken, wenn du es tust.
    – Was habe ich gesagt.
    – Nicht schlagen! oder so ähnlich.
    – Danke dir für das Aufwecken. Was für ein Tag ist heute?
    – Donnerstag.
    – Du, ich muß ins Office.
    – Es ist der 22. Februar, Gesine.
    – Ja. Ich muß ins Office.
    – Es ist Washingtons Geburtstag, Gesine! Die Börse ist zu, die Banken sind zu. Es ist schulfrei!
    – Schulfrei möcht ich auch haben.
    – Was träumst du denn, Gesine.
    – Daß ich schlafe, glaub ich.

23. Februar, 1968 Freitag
    Um Stalin Schmerz zu ersparen, haben die U. S. A. ihm bis heute verschwiegen, daß sein Sohn Jakov schon im April 1943 im Lager Sachsenhausen erschossen wurde, auf eigenes Verlangen. Janusz Szpotanski in Warschau muß für seine unveröffentlichte Operette auf drei Jahre ins Gefängnis, und 600 Złoty Strafe kostet sie ihn auch (25 Dollar). Der Kriegsminister McNamara versicherte dem Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen, daß er Angriffe auf U. S.-Zerstörer im Golf von Tonkin vor dreieinhalb Jahren mit hochgeheimen und unanfechtbaren Fakten nachweisen kann, und tat es nicht. In Cuba wird an Personen über 13 Jahre keine Milch mehr ausgegeben; hoffentlich ist dies nicht ein Leibgetränk des Dichters Enzensberger. Breshnew half in Prag den 20. Jahrestag des Umsturzes feiern. 150 000 marschierten in Westberlin für die Amerikaner in Viet Nam, und 10 000 gegen sie. In der sowjetischen Botschaft zu Washington ist eine Bombe hochgegangen, und gestern war es für die Statistik zu kalt, mit eisigen Winden und Temperaturen um minus 10 Celsius, und die Times nennt den Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan umstritten. Das war die versäumte Woche.
    Heute haben wir Francine verloren.
    Nur zwölf Tage war sie in der Wohnung, und wir hätten es länger ausgehalten mit ihr. Sie war nun fast zu Hause gewesen mit uns.
    Für Francine war es gut, daß Mrs. Cresspahl seit dem Sonntag nicht mehr aufgestanden ist, die Tage und Nächte im Fieber verschlief, gelegentlich bei halbem Bewußtsein, redend im Schlaf, angeblich, allegedly. Das war etwas für Francine, darin kannte sie sich aus, damit dachte sie wohl hier Bett und Brot zu verdienen. Sie hat sich Gedanken gemacht über die Krankheit, sie kam mit Eiskrem zurück, wenn sie mit Einkaufen an der Reihe war, immer neues Wasser mit Eisstücken stellte sie neben das Bett, immer auf Zehenspitzen. Marie erzählt es. Heute morgen kam Francine mit einer grauen bitteren Brühe von Tee, den sie nicht aus der Apotheke hatte, sondern von einem alten Mann im hohen Norden Harlems, einem Zauberer mit Kräutern,

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