Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gewesen sein, er konnte doch leicht in Slang hinüberwechseln, wobei die Sprache zitiert klang, und die sichernde, mißtrauische, umwegfreudige Haltung wie in vielen Jahren antrainiert. Anfangs führten er und Marie das Gespräch; auch später war von Francine nur wenig zu hören.
– Wenn dies die Wohnung Cresspahl ist, möcht ich wohl mal reinkommen.
– Machen Sie das immer so?
– Das mach ich immer so.
– Dann können Sie nun wieder gehen. Denken Sie bloß nicht, wir sind hier allein.
– Ich bin von der Stadt, meine Kleine.
– Ihre Kleine suchen Sie sich wo anders. Und Sie werden ja wohl einen Ausweis haben.
– Du bist wirklich eine ungeheure Type, du zartes Kind.
– Von der Fürsorge?
– Du kannst ja lesen!
– Wir haben nichts zu tun mit Fürsorge. Meine Mutter verdient Geld.
– Und wie also sichert sie den Unterhalt der Familie?
– Sie arbeitet bei einer Bank in Stadtmitte.
– Dann ist es zweifelsohne die Chemical.
– Es ist nicht die Chemical.
– Kriegt man hier einen Stuhl angeboten?
– Weil Sie ein Gentleman sind.
– Kinder, das war doch nicht unfreundlich gemeint. Lauft ihr mal den lieben langen Tag durch Häuser, die keinen Fahrstuhl haben.
– Machen Sie es umsonst?
– Denn wollen wir also geschäftlich werden. Ich suche ein Kind, das heißt Francine, elf Jahre, gefärbt, und ein Bild hab ich auch von ihr.
– Na und?
– Das ist sie.
– Und wenn?
– Dann bin ich hier richtig.
– Es ist vollständig legal, daß sie bei uns lebt. Das Polizeirevier weiß es, und Francines Mutter hat die Adresse auch.
– Wo anders hab ich sie auch nicht bekommen.
– Verstehst du das, Francine?
– Ich soll dich von deiner Mutter grüßen, Francine.
– Wir wollten morgen wieder ins Krankenhaus.
– Francines Mutter ist nicht mehr im Krankenhaus.
– Das wüßten wir.
– Das wißt ihr nicht. Sonst könntet ihr euch vorstellen, daß in einer Kältewelle die Betten noch knapper werden als sonst. Sie ist entlassen.
– Ich muß nur meine Sachen packen.
– Sie können doch Francines Mutter nach einer solchen Verwundung nicht zurücktun in so ein Loch wie das an der 103. Straße!
– Ich wars nicht. Wie heißt du überhaupt.
– M’rie.
– Also, dear Mary. (Du bist nicht meine liebe Mary, das weiß ich nu.) Ich bearbeite diesen Fall. Bei einem Kontrollbesuch hat man mir die Geschichte erzählt. Und ich war entschlossen: wenn sie zurückkommt, nicht in das Loch. Wie du zutreffend sagst.
– Es ist ganz außerordentlich freundlich von Ihnen, Mr. Feldman.
– Also hab ich den Fall umgetopft in ein Hotel.
– So eins, für das die Stadt Miete zahlt?
– Gib zu, es ist besser.
– Ein wenig besser als die 103. ist so ein Hotel wohl.
– Nun sitzt die Mutter mit einem Kleinkind allein. Die ältere Tochter ist aus dem Kinderheim ausgerissen, nicht aufzutreiben.
– Dann fehlt noch der ältere Bruder.
– So eine Familie ist das.
– Ich glaub nicht, daß die selber schuld sind.
– My dear Mary (ja! ich weiß!), wenn ich nun auch noch darüber nachdenken wollte, käm ich zu nichts.
– Und nun nehmen Sie Francine mit.
– Wenn sie nicht will, kann ich sie auch holen lassen.
– So ist das.
– Mary, bist du nicht dafür, daß eine Familie zusammenlebt?
– Ja. Und Francine soll ihrer Mutter die Pflege abnehmen, damit sie - es war nichts. Ein Irrtum.
– Vielleicht sind die Wunden immer noch nicht richtig ausgeheilt. Die Mutter sagt, sie will Francine.
– Warum ruft sie uns nicht an.
– Das weiß ich nicht. Es ist aber klar, daß sie es nicht möchte. Nicht über sich bringen mag. So ähnlich.
– Und Sie haben einen Brief von ihr.
– Den kann ich dir hierlassen. Und überhaupt ist es eine Gefälligkeit.
– Gegen wen?
– Mary, wenn deine Francine seit zwei Tagen weiß, daß sie zu der Mutter zurückkommen soll, und auch die neue Adresse weiß -
– Das glaub ich nicht.
– Francine, kennst du eine Mrs. Lippincott? Sie wohnt in eurem alten Haus.
– Ja, Mister.
– Hat sie dich nicht neulich auf dem Broadway getroffen?
– Ja, Mister.
– Hat sie dir gesagt, wo deine Mutter ist, und daß du kommen sollst?
– Ja, Mister.
– Francine.
– Es ist so, Marie.
– Du, Francine!
– So. Wann kommt diese Mrs. Cresspahl also nach Hause von der Bank, die nicht die Chemical ist?
– Sie ist hier. Sie ist krank.
– Ihr seid eine unverstandene Generation, beim blutigen Jesus. Jetzt muß ich ihr alles noch einmal vortragen.
– Nein.
–
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