Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
und sie sagte ohne Zweifel: wenn die Medizinen das Fieber nicht besiegten, helfe nur noch dies. Es ging nicht an, aus Gefälligkeit einen Schluck zu nehmen, Francines lange Reise und Mühe verlangten, daß die Kranke die Schale bis zur Neige leernippte. Es blieb kein Rückstand. Der Hals wurde ganz weit. - Wenn Sie aufwachen, iss es wech: sagte Francine ernsthaft und kam noch eine Weile mit in einen Traum, in dem sie ein zierlich gekräuseltes Spitzentaschentuch zwischen ihren Zöpfen spazieren trug, davon war ihre Haut etwas dunkler geworden. Sie war nicht zutraulich, lange nicht vertraulich mit der Weißen Frau, sie versuchte ihre Scheu zu überspielen mit den Redensarten von Krankenschwestern, daß »wir« jetzt gehorchen und »wir« gesund werden wollen; dann wurde Francines Stimme ganz hoch, fest, mit einem Rand Lustigkeit, denn ein Spiel sollte das auch sein. Sie hatte sich verändert.
Sie war nicht mehr das Kind, das noch den Platz verteidigen will, den es auf einem Stuhl hat, das versucht, den Besitz auszubauen mit Defensive nach allen Seiten, und sei das neu erworbene Privileg nur, daß man ihm eine Minute länger zugehört hat als der Konkurrenz. Auch Maries Kleider konnte sie schon ansehen nicht daraufhin, wie sie mit Komplimenten, Schmeicheleien, Bitten zu erkämpfen seien, sondern, ob sie denn ihr auch gefielen. Sobald sie heraus hatte, daß sie das Recht hatte, zu bitten, und obendrein mit Erfolg, fiel ihr das Verzichten leichter. Als sie sicher war, daß sie ihren Teil hatte an der gemeinsamen Benutzung der Wohnung, wurde der Neid kleiner, und die Bewunderung für Marie auch. Dann konnte sie Marie ansehen auf was sie ist, nicht was sie hat; Marie allerdings bezog noch viel von ihrer Nachgiebigkeit aus dem, was Francine zu Hause nicht hatte, oder haben wird. Konkurrenz war da sichtbar nicht übrig. Als sie unverhofft die Kranke im Haus hatten, mußten sie eine gründliche Arbeitsteilung einrichten, sie hingen einer von des anderen Arbeit ab, und in mancher war Francine zuverlässiger. Wenn das Geschirr abgegessen ist, geht eine Francine hin und wäscht es sauber, fleißig und ergeben, weil es einmal doch getan werden muß; Marie stellt das Geschirr erst einmal ins Becken und gönnt sich eine Schonfrist. Als Frau Erichson ankam, hatte sie ein Chaos erwartet in der Küche wie in den Zimmern, sie fand aber eine aufgeräumte, sorgfältig in Gang gehaltene Wohnung, die ihren mecklenburgischen Ansprüchen auf Solidität fast Genüge tat; es war lediglich der übermäßige Vorrat an Fernseh-Dinners und tiefgefrorenem Geflügel, der ihr für einen Moment die Sprache verschlug. Für Frau Erichson wurden die Tage in New York nicht eine Arbeitsverpflichtung, sondern ein Urlaub in der Stadt; sie konnte sich damit begnügen, den Kindern Anweisungen zu geben
Wenn tein melkn, möt einer an de Bank ståhn un mit de Emmers klappern; süß wardt dat nicks
und hatte sich bald verkuckt in die kleine Schwarze, die so dienstmädchenhaft sagen konnte: Ja, Madam; Gewiß, Madam; die dennoch nicht furchtsam war und ihr oft genug in die Augen sah in einer fröhlichen Art, die die Alte hätte auch als Herausforderung nehmen können. Herausfordern läßt sich eine Mrs. Erichson nicht, dafür hat sie ihre Sprüche; von’t Burrjacken kümmt’t Piesacken; als sie wieder abfuhr nach New Jersey, war sie nahe daran, diese Francine mit Marie einzuladen; diesmal sprach sie es noch nicht aus. Denn Mrs. Erichson sah diesen Haushalt ohne ihre Mitwirkung laufen und wollte zu dem eigenen zurück; da sie auch nicht mehr bei der Krankheit gebraucht wurde, nahm sie ihr Auto und ist inzwischen weit über Bayonne hinaus. Das Fieber war um Mittag herunter, und ist weggeblieben.
Francine und Marie saßen vor dem Abendessen im großen Zimmer nebenan am Tisch und versuchten nachzuholen, was sie von den versäumten Klassenstunden hatten zusammentelefonieren können. Halb waren sie vom Bett aus zu sehen, der helle neben dem dunklen Kopf, Francines etwas krummerer Rücken, Maries weites Zurücklehnen, wenn sie über etwas nachdenkt, das Kinn hoch, einen Bleistift am Mund, den Blick gegen die Decke. Dann ging die Klingel, und die Tür zum Zimmer der Kranken wurde sanft zugedrückt, nicht ganz vollständig in der Eile. Die Kranke hatte weiterschlafen sollen, und wachte nun vollends auf.
Die Stimme des Besuchers war die eines jungen Mannes, ein träger, die Vokale anspitzender Tenor, um die fünfundzwanzig Jahre. Der Fremde mag auf einer Universität
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