Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
nicht gewußt.« Es ist ihr unbehaglich, daß zumindest der höchste Vertreter Westdeutschlands es wußte. Ihr ist die Würde des Amtes im Weg. Sie läßt sich hierin nicht gern überzeugen. Jedoch beim Einkaufen läßt sie sich um keinen Cent behumpsen.
Sie bewundert Leute, die groß sind und gut aussehen. In ihrem Haus wohnt eine Norddeutsche, eine Hamburgerin, mit einem Polizeioffizier verheiratet, die sich sehr streng beträgt. Steht um sieben Uhr auf, und muß das nicht, und dessen gleichen. Jene Deutsche ist fast einen Meter achtzig groß, schlank, hat einen langen Hals, Sommersprossen, trägt die Frisur nach hinten, ist 24 Jahre alt. Sie erzählt gern von ihrer disziplinierten Weise zu leben, und Mrs. Ferwalter bewundert sie.
Sie möchte nun wissen, ob die Cresspahl, mit so europäischem Hintergrund doch, wirklich ein schwarzes Kind bei sich aufgenommen hat.
Sie nickt mit Genugtuung, als sie erfährt, daß es eine Aushilfe war; sie hat verstanden: es war eine Verirrung. Sie besorgt das Nicken für sich allein, zeigt es der Cresspahl nicht vor; einen Tadel will sie sich nicht erlauben. Von Negern denkt sie unduldsam und glaubt allen Ernstes, Gott habe diese gemacht, in Schmutz und Armut und Sünde zu leben.
Nicht einmal ihre Religion, um derentwillen sie in die Lager geliefert wurde, reicht ihr aus, an die Deutschen anders zu denken als an eben Gois. Mit ihrem Gott hat sie einen so scharfen Vertrag, daß sie nur solche als gleichrangig ansieht, die als orthodoxe Juden leben, seien sie arm oder nicht arm. Nicht Armen verweigert sie einen geringen Vorzug nicht, um Gottes Entscheidung in diesem Falle zu respektieren. Sie hält die Feste streng ein, oft genug werden Rebecca und Marie auseinandergebracht. Am Sonnabend ist für Rebecca schon das Spazierengehen, das Besuchemachen im Grunde verboten. Am Freitag ist der Hausputz, wird das Essen vorgekocht und warm gehalten, damit sie am nächsten Tag Gas nicht anzünden muß. Am Sabbath darf Rebecca nicht baden. Sie muß mit Vater und Bruder in die Synagoge, und wenn sie eher versehentlich in der Imbißhalle ein Eis gegessen hat, vor Gott fürchtet sie sich dann weniger als vor der Mutter. Rebecca ist lange erzogen worden nach finsteren Prinzipien des Alten Testaments: züchtige ich nicht mein Kind? beweise ich nicht, daß ich es liebe? Daß die Cresspahl ihr Kind frei aufwachsen ließ, Mrs. Ferwalter sah es mit entsetztem Mißtrauen, und erst spät nahm sie sich ein wenig Milde an. Mrs. Ferwalter ist so firm in ihren Grundsätzen, daß die jüdischen Gemeinden auf der Oberen Westseite in Manhattan nicht nach ihrem Geschmack sind. Es werden doch wahrhaftig hier auch Gottesdienste abgehalten in kleinen Läden am Broadway. Die Gläubigen stehen nach der Feier inmitten des Verkehrs und Fußgängergewühls wie andere Menschen vor dem Kino! Ein schlechtes Gewissen hat Mrs. Ferwalter auch, sie geht nicht oft mit in die Synagoge. Da ist die Sache mit dem Geld. Mit großer Not und Sparsamkeit würde es reichen zu einem jüdischen Feriencamp für Rebecca, der nichts abgehen soll an jüdischer Erziehung. Mrs. Ferwalter ist beleidigt, wenn die Cresspahl ihr Kind sommers in ein auswärtiges Camp schickt; die Marie hätte doch spielen können mit der Rebecca, die im Camp der P. S. 75 bleiben muß, damit die Gebühren für das jüdische gespart werden, und das unbehagliche Gefühl davon soll mit dem der Kränkung verdeckt werden. Aber eine deutsche Spielgefährtin darf es sein. Was die Deutschen den Juden getan haben, es ist von Gott so beschlossen worden.
Nun also die Cresspahls nicht mehr ein schwarzes Kind bei sich haben, darf Rebecca wieder in die Wohnung kommen und mit Marie Freundschaft unterhalten. War es das, Mrs. Ferwalter.
Das war es wohl. Mrs. Ferwalter war in einem Film, in dem kam eine europäische Landschaft vor, ein Schloß in den Bergen, ein Edelmann mit vielen mutterlosen Kindern, immerfort ist gesungen worden, am Ende wurde geheiratet. Mrs. Ferwalter hat geweint. Sie will es nicht Kitsch genannt wissen, aber sie gibt zu, daß es die Wirklichkeit für eine Weile angenehm verstellt. »Man hat es doch verdient.« Und außerdem kommt es ja vor. In Jerusalem hat ein Oberrabiner geheiratet, er war siebzig Jahre, die Braut war vierzig. So ein frommer Mann, der Bart ging ihm bis zum Bauchnabel. Es gebe doch noch Romantik.
– Sie sind doch auch nicht blind auf diesem Auge? Or have you given up, reelly?
Mrs. Ferwalter hat unterwegs, auf der Flucht von den deutschen
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