Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Rüstungsindustrielle (siehe Paul Goodman) aussähen wie die Unholde in den Comic-Strips. Er möchte das richtigstellen. Sie haben gute Manieren, sind freundlich, lieben womöglich Kammermusik und haben philanthropische Neigungen; Leute, wie es sie auch bei den Nazis gab. So sind sie also. Nun wissen wir es. Ihre moralischen Defekte rühren nicht aus ihrem Charakter, sondern aus ihrer gesellschaftlichen Funktion. Es wird nach diesen überraschenden und originellen Einsichten wohl Keiner mehr annehmen, daß der Präsident der U. S. A. als ein Privatmann handelt. Was gesagt werden muß, muß gesagt werden.
Und Kommunismus ist auch nicht, was aus Herrn Enzensbergers Analyse spricht. Er hat keinen Grund, diese bejahrte Verdächtigung zu fürchten. Furchtlos wie er ist. Denn der Singular Kommunismus ist ohne eine Bedeutung, hat viele, widersprüchliche, einander ausschließende. Da ist also nicht viel zu fürchten, und Herr Enzensberger tut es nicht. Wenn das aber noch nicht reicht als Rückendeckung, so hat er an seiner Seite noch griechische Liberale, lateinamerikanische Erzbischöfe, norwegische Bauern und französische Industrielle, die ganze gebildete Gesellschaft Herrn Enzensbergers. Amerikanische Rüstungsindustrielle sind the most dangerous body of men on earth, Paul Goodman sagt auch so; doch nicht französische. Und Kommunisten sind seine Nothelfer obendrein nicht, wenigstens gehören sie nicht zu der kommunistischen Vorhut. So kann Hans Magnus Enzensberger nichts passieren. Öffentlich hat er darauf Anspruch gemeldet; daß wir uns nun ja daran halten und ihm seine Sicherheit nicht wegnehmen. Sonst wäre es ja ein Scheißspiel (die Gesellschaft hat in allen Gliedern die Tabuwörter, weil unentbehrlich, freigegeben).
Daraus folgt, daran schließt logisch an, die Konsequenz davon ist: ein Faktum. Daß 125 Millionen nicht wissen, wie sie und ihr Land sich in der auswärtigen Welt ausnehmen.
Nein. Das darf nicht sein. Wie isses nu bloß möglich! Und wie sehen sie im Ausland aus, ohne es zu wissen? Ohne die leiseste Ahnung zu haben?
Herr Enzensberger hat es erkannt an dem Blick, der amerikanischen Touristen folgt in den Straßen von Mexico, Soldaten auf Urlaub in fernöstlichen Ländern, Geschäftsleuten in Italien oder Schweden. Schweden scheint eine Alternative zu sein. Der selbe Blick trifft übrigens auch Botschaftsgebäude, Zerstörer, Anschlagtafeln mit amerikanischer Produktwerbung, von General Motors bis I. B. M. Ein internationaler Blick, gleich in jedem Land. Wo der Blick nicht auftritt, befindet sich das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika.
Enzensberger hat ihn leicht erkannt, diesen Blick. Er will damit nicht hinter dem Berge halten. Ein fürchterlicher Blick, der keine Unterschiede macht und keine Nachsicht übt. Er hat Herrn Enzensberger getroffen, weil er ein Deutscher ist.
Die Deutschen hatten sich 1945 vor der Welt zu verantworten für 55 000 000 Tote, die sechs Millionen Opfer in den Vernichtungslagern noch dazu.
In Herrn Enzensbergers Augen haben die Bürger der U. S. A. eine vergleichbare Schuld auf sich geladen.
Mag es da um Tote gehen. Die Toten halten zuverlässig das Maul.
Es folgt die Analyse jenes internationalen Blicks. Der Versuch einer Analyse. Bescheiden die Favorisierung ablehnen, und dann doch als Erster über die Ziellinie gehen. Dann kommen zum Kranz die Vorschußlorbeeren doch hinzu. Versuch einer Analyse.
Der bescheidene, zaghafte Schüler, der dann doch alles herauskriegt: Jener Blick besteht aus einer Mischung aus Mißtrauen und Widerwillen, Furcht und Neid, Verachtung und offenem Haß.
Und wer es nicht glaubt, ist freundlich eingeladen, sich sommers mit ihm in Rom zu treffen und an dem Brunnen auf dem Platz unterhalb der Spanischen Treppe den Beweis abzuholen.
Denn die Passanten in mexicanischen, fernöstlichen, italienischen (oder schwedischen) Straßen haben die Außenpolitik der U. S. A. bereits analysiert. Nur in Amerika, und besonders bei der New York Review of Books und der Wesleyan University von Middletown weiß man noch nicht Bescheid. Aber nun ist endlich Herr Enzensberger gekommen.
Jener Blick trifft den Präsidenten Johnson. Der kann ja in kaum noch einer Hauptstadt sein Gesicht öffentlich zeigen. Hier werden manche Zuhörer Herrn Enzensbergers hörbar aufseufzen: Wär’s doch wahr.
Denn von allen Staatsoberhäuptern der Welt ist der Präsident der U. S. A. das einzige, das bei Auftritten in der Öffentlichkeit durch
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