Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Cresspahl trug das verbotene Geld unter dem Hut. Das trau ich ihm zu.
– Er ließ es das Kind tragen, in die Schlafpuppe eingenäht. Das trau ich ihm zu.
– Er besorgte Geschäfte für Erwin Plath in Dänemark.
– Das weiß ich nicht, nicht einmal ob er nach Dänemark gefahren ist.
– Du kannst es doch beweisen. Du hast seinen Paß.
– Den der Republik hab ich ihm 1951 gestohlen; nicht den mit dem Hakenkreuz. In Jerichow weiß das Keiner mehr, und ich mochte ihn nach dem Krieg nicht fragen, was Ende 1938 war. Was ich da weiß, ist mir in Stücken erzählt worden; dies nicht.
– Nimm Dänemark an. Ein Mann allein mit einem Kind.
– Später in meinem Leben bin ich viel mit der Eisenbahn gefahren, von Mecklenburg nach Sachsen, von Bayern nach Italien, von Wales nach Schottland, und ich mußte es nicht mehr lernen. Ich konnte das schon; vielleicht habe ich es im sechsten Jahr gelernt. Ich kann Strecken träumen, viele hundert Kilometer lang, dichten Mischwald neben dem zweiten Gleis bis genau zu der Stelle, an der wiesiges Gelände einfällt, und erkenne die wirkliche Strecke nicht wieder, nicht einmal im Wachen. Als ich mit dir nach New York fuhr, ich mußte nicht neu herausfinden, was ein Schiff ist; ich hatte es schon bei mir.
– So geht es mir nicht.
– Bei dir hat es nicht sechs Wochen gedauert.
– Also war es Dänemark.
– Vielleicht. Als wir von Kopenhagen nach Esbjerg fuhren -
– Déjà-vu.
– Das ist mir zu gebildet, Marie. Vielleicht war es getäuschte Erinnerung, daß ich die Landschaft zu beiden Seiten des Zuges, die Inseln im Großen Belt, die Brücke an der Middelfart und schließlich noch die Fähre nach Harwich wieder erkannte. Aber dein déjà-vu meint doch nicht nur, was schon früher gesehen scheint, auch das früher Erlebte; das fehlt bei mir, und das Vorauswissen des Kommenden ebenso. Erst recht nicht hatte ich es vor zwei Jahren zu tun mit einem Nachlassen der Aufmerksamkeit auf das Leben, so daß das Gegenwärtige unverzüglich als Erinnerung abgetan wird -
– Ich wollte nur angeben mit déjà-vu.
– sondern wir hatten Ingrid Bøtersen in Klampenborg besucht und waren auf dem Weg nach England.
– Du hast es nur wiedererkannt.
– Und ich konnte es mir nicht merken. Im Augenblick des Ansehens klappte das Gesehene in eine vorbereitete Gehirnstelle und war wirklich; im Nichtmehrsehen war es vergessen. So geht es mir mit dem Nyhavn in Kopenhagen, mit der Amaliegade, mit dem Hauptbahnhof; nicht mit dem Dänischen Freiheitsmuseum im Churchillpark, dem Flughafen Kastrup oder mit Klampenborg. Das andere Gefühl, déjà-vu -
– Mehr unter die Nase reiben mußt du es mir nicht.
– Ich habe es aber auch in einem Schulflur in London gehabt, im Victoriabahnhof, in Glasgow auf der rechten Seite des Clyde, in der Altstadt. Warum -
– Du warst da, Gesine. Cresspahl war da. Er hat sich noch einmal umgesehen in England, in Dänemark, vielleicht sogar in den Niederlanden. Ob da ein Platz wäre für ihn. Er wollte auswandern, Gesine!
– Ich wünschte es mir.
– Ein Mann allein mit einem Kind, sechs Wochen lang auf Reise.
– Es ist undeutlich. Viele Abende allein mit ihm in kahlen Zimmern. Als ob ich einmal aufgewacht wäre, und er war nicht zu finden, und ich lief durch viele Zimmer, von denen ich aber keins kannte, und schaltete das elektrische Licht an, erbärmlich jammernd, und als ich die Leute zusammen hatte, verstanden sie mich nicht. Nicht, weil sie so vergnügt lachten. Ich konnte ihnen nicht sagen, was ich wünschte. Das kann ein Traum sein. Ich weiß auch etwas von einem Reetdachhaus mit Fledermausfenstern und vier Kindern, denen ich übergeben wurde; ich habe solch Haus kein Mal mit Bewußtsein gesehen, und doch war da See in der Nähe. Kleine Brandung, heller sauberer Sand im Regen. Als ob ich aber doch nie unglücklich gewesen wäre, weil Cresspahl das Wiederkommen versprach, und wiederkam. Und daß wir fast keinen Tag am selben Ort gewesen wären. Wer sich das einbilden will, kann es glauben.
– Glaub es doch, Gesine.
– Es ist aber nicht zu beweisen.
– Lieber hätt ich einen Beweis dafür, warum Cresspahl zurückging nach Deutschland, nach Jerichow.
– Ich weiß es nicht.
– Gesine, die Stadt war nicht geworden, was Richmond war. Die Verwandtschaft kam ohne ihn aus, und die Freundschaften auch. Und vor dem Haus, fünfzig Meter weiter hatte er einen Erdhaufen, unter dem lag seine tote Frau.
– Vielleicht hat Cresspahl aufgegeben.
– Traust du
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