Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Lagern, ihre Sprache verloren. Zu Hause wurde Jiddisch gesprochen, »das Deutsch«. In der Schule lernte sie Tschechisch, das sie nicht ganz so gebrochen spricht wie das Deutsche, das sie im Konzentrationslager lernte. In Israel lernte sie Hebräisch, und bis zur Ankunft in Amerika sprach die Familie unter einander diese Sprache. Dann fing der Sohn an, auf Hebräisch mit Englisch zu antworten, und sie mußte Englisch lernen. Nunmehr sprach sie mit ihrem Mann Jiddisch, mit dem Sohn und Rebecca Englisch, das die Kinder aber nicht immer verstanden. Dann, in der new yorker Schule, lernte Rebecca Hebräisch, und Mrs. Ferwalter verlangte von sich, es von neuem zu lernen. Sie hat für ihren Mann und jedes ihrer Kinder eine andere Sprache.
– Sie nehmen nicht übel: sagt Mrs. Ferwalter. Denn wir sind jetzt angekommen vor dem Haus in der Seitenstraße zum Riverside Drive, in dem die Familie seit neun Jahren wohnt zu viert in dreieinhalb Zimmern, mit allen Fenstern auf einen Hof, und offenbar hat Mrs. Ferwalter sich dazu durchgerungen, die Sache auf der Straße abzumachen und die Deutsche nicht in die Wohnung zu bitten. Das Heim ist für die Familie; mag das Fremde den Fremden gehören.
Es geht darum, Mrs. Ferwalter möchte ein gutes Wort einlegen. Sie ist die Ältere, unter Freunden darf man es. Vielleicht sei es nichts Ernstes, aber es möge nicht führen zu einer Trennung von Professor Erichson. Nicht wahr?
Es ist noch nicht viele Jahre her, da kam D. E. an einem Sonntagmorgen sommers in den Park und ließ sich weit entfernt von den Cresspahls nieder, wie ein Fremder, der sich in einem Pappbecher Kaffee und unter dem Arm die Zeitung für ein Frühstück mitgebracht hat. Mrs. Ferwalter saß neben der Cresspahl, sah ihn hinüberblicken und fühlte sich erinnert an Leute, die sie in den Lagern zu deutlich kennen gelernt hatte. Sie war fast gelaufen, und es dauerte seine Zeit, bis sie wenigstens die Gegenwart dieses großgewachsenen kräftigen Herrn aus Deutschland im selben Zimmer ertragen konnte, ohne mehr auf dem Stuhl zu rücken, die Beine zu versetzen, mit den Lippen zu arbeiten als sie gewöhnlich tut. Jetzt will sie sich mit ihm verbünden, und was hat sie dazu gebracht?
Wo doch Mrs. Cresspahl etwas angefangen habe mit einem hohen Präsidenten in ihrer Bank. Nachdem sie doch so sichtbarlich von ihm ausgezeichnet werde, mit Beförderung im Geld, im Arbeitsraum, im Glanze überhaupt. Und woher weiß Mrs. Ferwalter das?
Von Herrn Weiszand, Mrs. Cresspahl. Dmitri Weiszand. Immer wenn man ihn trifft an der Columbia-Universität, er hat Zeit für ein Gespräch, und sei es mit einer bescheidenen Jüdin aus der Č. S. R. Tatsächlich war er es, der solche Gespräche anfing, vor etwa drei Monaten. Ein so umgänglicher Mensch, so liebenswürdig, obwohl die Deutschen ihn doch geschlagen haben in ihren Lagern.
Jetzt ist Mrs. Ferwalter sehr aufgeregt vor Sorge. - Ich nicht schleiche mich ein! ruft sie. - Sie nicht nehmen übel! sagt sie, und es ist nun nicht nur nach der Sprache, auch im Ton eine dringende Verordnung.
– Wer weiß, wozu es gut ist, Mrs. Ferwalter.
– Nicht wahr? sagt sie, nicht eben strahlend, aber doch zufrieden mit sich, weil sie etwas versucht hat, was sie für gut hält. Jetzt ist ihr Mund locker, und sie blickt erfreut, arglos, mit einem Mal eine noch junge Frau.
Ich mag dich nämlich gern, du Deutsche. Kannst du es verstehen?
Nein, Mrs. Ferwalter. Aber es soll uns recht sein, und wir erwidern es.
29. Februar, 1968 Donnerstag
ist der Tag nach dem Abend, an dem ein westdeutscher Publizist im Hilton-Hotel von New York teilnahm an einer Diskussion über neuere Chancen des deutschen Nationalsozialismus. Herr Klaus Harpprecht führte sich ein mit der Mitteilung, er sei unter Hitler ein junger Soldat gewesen, nun aber verheiratet mit einer jüdischen Frau, die in Auschwitz gewesen sei.
Erklären Sie uns das. Sie sind doch auch eine Deutsche, Mrs. Cresspahl. Versuchen Sie, uns dies zu erklären.
Ist der Tag, an dem aus Bonn, Westdeutschland, gemeldet werden kann, daß die Regierung eine Illustrierte verbietet, die nach der Unterschrift des Staatspräsidenten unter Bauplänen für Konzentrationslager gefragt hat. Die amtliche Begründung will sich gestoßen haben an einer anthropologischen Serie und der Serie von Fotografien, die den Polizeichef und Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan bei der Hinrichtung eines jungen Mannes in den Straßen von Saigon zeigt. Die Regierung befürchtet, die Fotografien
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